Vaclav und Lena
ganze Lena-Geschichte«.
Seit der Nacht, in der Lena verschwand, hat Vaclav zweimal versucht, die Frage zu stellen. Einmal in der Küche, nachdem Rasia ihn in der
Sideshow
entdeckt hatte, und noch einmal zwei Jahre später, als er zwölf war. Beim zweiten Mal fragte Vaclav Rasia: »Wo ist Lena jetzt?«, und sie sah so bestürzt aus, dass er sofort wusste, er hätte nicht fragen sollen. Sie sagte: »Wie soll ich das wissen?«, und ging weg, und obwohl Vaclav sich über den Grund nicht im Klaren war, begriff er, dass sie aufgebracht war. Auch wenn er nie wieder fragte und Rasia nie darüber sprach, stand die Frage doch stets im Raum. Der Eisberg war immer in der Küche.
»Nein«, sagt Rasia. Das ist eine Lüge. Vaclav weiß es, und Rasia weiß es, und selbst Oleg weiß es.
»Ich schon«, sagt Vaclav.
Seit der Nacht, in der sie verschwand, hat Vaclav Lena jeden Abend Gute Nacht gewünscht. In der Nacht, in der Lena verschwand, wünschte Vaclav ihr Gute Nacht, sagte das Gute Nacht laut in die beängstigende, einsame Dunkelheit hinein und meinte jedes Wort ganz konkret. Gute Nacht. Gute Nacht. Er wollte, dass sie eine gute Nacht hätte. Keine beängstigende. Keine gefährliche. Keine kalte oder einsame oder von Albträumen erfüllte Nacht. Er legte all seine Liebe zu Lena, seine Fürsorge und seine Angst in diese Worte und schickte sie los wie Tauben und verließ sich darauf, dass sie zu Lena finden würden. |174| In jener Nacht hatte er das Gefühl, dass seine Worte Lena beschützten, dass ihr, wenn er an sie dachte und sich um sie kümmerte und dies dem Universum zeigte, nichts Schlimmes widerfahren würde. Er bat keinen allmächtigen Gott darum, ihm einen Wunsch zu gewähren. Vaclav setzte seine innersten und wahren Gefühle frei, stieß sie ins Universum und brachte eine gewaltige Energie in Bewegung, der er zutraute, das zu tun, wozu er als Kind nicht die Macht gehabt hatte.
In jeder weiteren Nacht hatte Vaclav diesen Gutenachtwunsch für Lena gewissenhaft ins Universum geschickt. Wenn er diese Vorkehrung nicht traf, das wusste er, wenn er das Ganze vergaß oder vernachlässigte oder unaufrichtig in seinem Wunsch oder im Geiste oder im Herzen war, dann würde die gute Nacht nicht zu Lena kommen, und das würde bedeuten, dass Lena vielleicht eine böse Nacht hätte und ihr Leben gefährdet sein könnte.
»Weißt du, was ihr zugestoßen ist?«, fragt Vaclav.
»Nein.« Das ist wahr und auch nicht wahr. Rasia hat eine Vorstellung davon, was damals mit Lena passierte, was die ganze Zeit über mit ihr geschehen war, aber sie weiß nicht, was Lena in den vergangenen Jahren widerfahren ist. Sie weiß, dass sich das Jugendamt um Lena gekümmert und sie irgendwo untergebracht hat, aber sie weiß nicht wo. Rasia hat auch keine Ahnung, was es bedeutet, vom Jugendamt betreut zu werden. Sie weiß nur das, was sie im Fernsehen gesehen hat.
»Was ist in der Nacht damals passiert?«, fragt Vaclav.
»Ich weiß das nicht«, sagt Rasia und blickt auf ihren Caesar Salad mit den gegrillten Hähnchenbruststreifen oben drauf. Sie möchte diese Fragen nicht beantworten. Rasia hat sich immer |175| den Zeitpunkt ausgemalt, wenn Vaclav würde erfahren wollen, was mit Lena geschehen ist. Sie hat sich vorgestellt, wie sie ruhig in einem Altersheim sitzt. (Oleg? Tot natürlich. Sie ist nicht grob, nur ehrlich. Das tun Männer doch, sie sterben lange vor den Frauen. So ist das nun mal vorgesehen, damit Frauen sich endlich ausruhen können.) Vaclav würde sie an einem schönen Sommertag besuchen kommen und die Enkelkinder mitbringen, und sie würden auf den Strand hinausschauen, wo die Kinder im Sand spielten (das Altersheim wäre natürlich das schöne am Strand von Coney Island). Und Vaclav würde sagen: Mama, ich weiß, das ist lange Zeit her, aber meinst du, du könntest mir sagen, was mit dem kleinen Mädchen passiert ist, mit dem ich immer gespielt habe? Und sie würde antworten: Dass du dich daran erinnerst, das ist lange, lange her. Man stelle sich nur vor, jetzt bin ich schon Oma, und damals dieses kleine Mädchen. Es hieß Lena, würde sie ihn erinnern, und sie könnte ihm die Geschichte sanft und wehmütig erzählen, weil das alles vor urlanger Zeit passierte und in so weiter Ferne lag.
Aber nicht hier, nicht jetzt. Es ist der gleiche Ort, das gleiche Viertel, nichts ist seitdem passiert, nichts ist verheilt, es ist noch immer schlimm, und über schlimme Dinge zu reden ist nicht gut.
»Mama, willst du mir nicht sagen, was in
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