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Vaclav und Lena

Vaclav und Lena

Titel: Vaclav und Lena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haley Tanner
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Toilettenraum, den Lena und ihre Freundinnen gewöhnlich meiden.
    Auf dem Korridor hasten alle dem Wochenende und einem Abend entgegen, der noch warm ist wie nachts im Sommer. Es ist Freitag, und das Wochenende scheint weit ausgedehnt wie ein großes Meer, das sich endlos erstreckt.
    In dem Toilettenraum gibt es nur zwei Toiletten. Die für Behinderte |188| im hinteren Raum ist schon besetzt, sodass Lena die kleinere Zelle nimmt, ihren schweren Rucksack auf den Boden fallen lässt und sich auf die Toilette setzt. Auf ihrem Rucksack ist der Name
Lena
eingestickt. Er sieht fremdartig und völlig willkürlich aus. Ihr Name, ihre Identität in weißer Bestickung auf dunkelblauem Grund. Wie konnte all das so einfach sein wie die eingestickte Schrift auf einem Rucksack? Bin ich das?
    In der Zelle nebenan zählt sie vier Füße. Vom Geruch her und von ihrem abrupt einsetzenden Schweigen, als sie eingetreten ist, weiß sie, dass die beiden Mädchen rauchen.
    Lena hält den Kopf in ihren Händen und blickt geradewegs nach unten auf den Boden. Sie ist augenblicklich getröstet durch die neue Entdeckung: Egal, was passiert, es wird immer Toilettenräume geben, und die werden immer private Orte sein, wohin sie sich zurückziehen kann und wo sie sicher ist. Sie kann ewig in dem Toilettenraum bleiben, sagt sie zu sich selbst. Und weiter, Lena, du brauchst hier nie wegzugehen, nie. Lena hat zwei Ichs. Da ist das Ich, das sich getröstet fühlt, als es hört, dass es diesen Raum nie verlassen muss, und da ist das zweite Ich, das die Trostworte, du musst diesen Raum nie verlassen, gesagt hat. Lena beschließt, sich an Ich Nummer zwei zu wenden. Glaubt dieses tröstende Ich, dass ihr erstes Ich, sobald es getröstet ist, bald bereit sein wird, die Toilette zu verlassen? Ja. Sobald sich das erste Ich beruhigt hat, wird es bereit sein, der Welt draußen entgegenzutreten. Ihr zweites Ich, das die Toilette niemals verlassen möchte, muss daher getrennt vom ersten bleiben. Dann gibt es noch ein drittes Ich, Lena Nummer drei. Es vermag die beiden anderen Ichs zu befragen und Schlussfolgerungen zu ziehen, und dann gibt es sogar ein weiteres, |189| das diese Beobachtung machen kann. Lena spürt, wie sich ihre vielen Ichs vermehren, als schaute sie in parallele Spiegel und sähe den eigenen Hinterkopf, überraschend unvertraut, eine Spirale ins Endlose.
    Lena schaut auf den Fleck auf dem Toilettenboden zwischen ihren Schuhen. Sie mag diesen Fleck. Der Fleck kann vieles sein, und sie fühlt sich verwandt mit diesem Fleck. Der Fleck ist entweder Schmutz auf der Fliese oder Teil des gesprenkelten Fliesenmusters, dazu bestimmt, Schmutz zu verbergen. Ist dieser Fleck Schmutz oder ein Fleck? Das Fliesenmuster bringt Lena nicht dazu, zu glauben, dass der Boden sauber ist, überhaupt nicht. Der Boden sieht schmutzig und hässlich aus. Lena fragt sich, ob sie sich an diesen Fleck immer erinnern wird. Er sieht für sie wie der wichtigste Fleck aus, den sie je gesehen hat. Sie staunt über den Fleck. Sie schließt die Augen und versucht, sich den Fleck vorzustellen. Sie fragt sich, was an dem Fleck ist, das ihn so erstaunlich macht, dass er ihr aufgefallen ist, was diesen Fleck abhebt von all den anderen Flecken. Sie denkt, dass sie vielleicht die Erste ist, die diesen Fleck bemerkt hat, diesen Fleck würdigt, ihn in all seiner Fleck-Besonderheit wahrnimmt.
    Begreift der Fleck sich selbst als Fleck? Nein, bestimmt nicht. Was sie mag, stellt Lena fest, ist, dass der Fleck sich seines Fleckseins nicht bewusst ist. Sie hat das Bedürfnis, diese Wendung aufzuschreiben, die sie ausgezeichnet findet und etwas auszudrücken scheint, was sie immer hat ausdrücken wollen. Das sich selbst nicht reflektierende Flecksein des Flecks. Obwohl die Wendung ihr so klar in den Kopf kommt, neue aufregende Bereiche in ihrem Gehirn erhellt, ist sie nicht sicher, ob |190| sie sich diese Formulierung merken wird. Sie fragt sich, warum sie mit sechzehn ihrem Gedächtnis nicht traut. Siebzehn. Sie ist siebzehn. Sie stellt fest, dass sie ihrem Gedächtnis doch traut. Sie erinnert sich an all die trigonometrischen Funktionen, den Unterschied zwischen Mitose und Meiose, an alle Präpositionen der englischen Sprache. An Bord, oberhalb, quer, nach, gegen, entlang und so weiter. Das ist kein Gedächtnisproblem. Das Problem sind die riesigen Lücken zwischen ihren sich vermehrenden Ichs. Sie macht sich Sorgen, dass sie das Ich verliert, das den Fleck betrachtet hat. Wenn sie wieder

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