Vaclav und Lena
der Nacht damals geschehen ist?«
»Ich erinnere mich nicht an die Nacht«, sagt sie.
»Ich wünschte mir aber, du würdest dich erinnern«, sagt Vaclav so freundlich wie möglich.
»Hör zu«, sagt sie.
»Schon gut.«
|176| »Du denkst jetzt gerade daran, weil heute ihr Geburtstag ist, in drei Tagen denkst du nicht mehr daran«, sagt sie und nimmt einen großen Schluck Wasser. Vaclav lächelt, denn diese Aussage drückt zugleich eine Tatsache und ein Versprechen aus. Natürlich erinnert Rasia sich an die besagte Nacht.
»Ja. In Ordnung«, sagt Vaclav. Und wartet drei Happen ab. »Wie war die Arbeit heute?«
»Och«, sagt Rasia. »Och.« Und sie schüttelt den Kopf, als wollte sie sagen, heute war der scheußlichste Tag, den man je im Büro erleben kann, du kannst dir nicht vorstellen, was ich an Ungeheuerlichem gesehen habe. Doch ich erzähle dir nur ein Bruchstück von meinem Tag, um dir vorzuführen, wie furchtbar er war, und du wirst verstehen, dass ich dir die allerschlimmsten Sachen nicht mitteile, weil ich dir eine Qual ersparen möchte, die ich selbst nur zu gut kenne.
»Barbara, du kennst doch Barbara, die ständig krankfeiert, mal heute, mal morgen? Am darauffolgenden Tag erscheint sie dann immer mit einer Packung Papiertaschentücher zur Arbeit, und gleichzeitig hat sie sich das Haar blondiert und eine neue Dauerwelle. Sie kommt heute also rein, und gestern sollte sie eigentlich einen ganzen Stapel Bestellungen durchackern, aber gestern habe ich sie den ganzen Tag am Telefon gehört, wie sie schwatzte und schwatzte, wer weiß, mit wem, wahrscheinlich mit Männern von dem Online-Dings für Dates mit jüdischen Männern, sie redet ja von nichts anderem. Eigentlich keine schlechte Idee, aber im Internet sind lauter Perverse, das weiß man doch, und warum sich eine Frau in eine derartige Schlangengrube wirft, ist mir ein Rätsel. Jedenfalls macht sie keinen Finger krumm, um diesen Stapel Bestellungen zu erledigen …« |177| Während Rasia redet und redet, nickt Oleg am Tisch ein und schnarcht leicht durch die Nase, die Luft schleicht sich still und langsam zurück in den Raum, und die Dinge scheinen normal, außer, dass zwischen Vaclav und Rasia eine neue Zärtlichkeit entstanden ist. Obwohl es ihr schwerfiel und auch gegen ihre Absicht war, hat sie ihm nämlich gesagt, dass sie noch an Lena denkt, sich an ihren Geburtstag erinnert. Und damit hat sie ihrem Sohn nicht nur eingestanden, dass sie sich an Lena erinnert, an sie denkt und an diesem besonderen Tag an sie gedacht hat, sie hat ihm auch versprochen, dass sie ihm zum richtigen Zeitpunkt alles erzählen wird.
Vaclav spürt auch eine neue Nähe zu Rasia, weil er herausgefunden hat, dass etwas, das groß in seinem Herzen ist, auch groß in ihrem Herzen ist.
Mögliche Folgen von Wünschen
Nach dem Abendessen schauen Rasia und Oleg auf der großen schwarzen Ledercouch im Wohnzimmer russisches Satellitenfernsehen. Vaclav sitzt auf dem Boden, hat die Beine vor sich ausgestreckt und seine Heftmappe auf dem Schoß. Er bereitet sich auf eine Physikprüfung vor, doch er weiß, dass er fundiertes Wissen in diesem Fach hat, also geht er die notwendigen Formeln zwar durch, aber nur, um ganz sicher zu sein. Vaclav ist überdurchschnittlich gut in Physik, seinem Lieblingsfach.
|178| Auf einem linierten Blatt Papier testet Vaclav sich, schreibt die Formeln auf, die er sich für die Prüfung eingeprägt hat. Währenddessen schweifen Vaclavs Gedanken immer wieder zu Lena. Er muss in sein Zimmer gehen, um allein zu sein und an Lena zu denken, und das ist für ihn so spannend, als läse er einen Krimi und könnte sich nicht auf das Alltägliche konzentrieren, denn er will in der Welt des Buches bleiben und will wissen, was als Nächstes passiert.
In seinem Zimmer legt Vaclav sich in voller Kleidung auf die Bettdecke. Für ihn ist das etwas Besonderes, denn er macht das selten. Es fühlt sich wie eine Selbstbelohnung an, perfekt, so oben auf der Bettdecke zu liegen und an Lena zu denken.
Er überlegt sich, wie sie jetzt aussieht. Das ist schwierig, weil er sich nicht einmal erinnern kann, wie Lena aussah, als er sie gekannt hat.
Er überlegt, wie Lena so klingt, aber es ist schwierig, sich an Lenas Stimme zu erinnern. Vielleicht, weil Lena selten sprach. Er erinnert sich an Dinge, die sie gesagt hat, aber er kann ihre Stimme nicht hören.
Lena wird heute siebzehn. Sie muss größer sein. Vaclav fragt sich, ob sie eher klein oder groß gewachsen ist. Sie
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