Vaclav und Lena
dasselbe. Was für ein entmutigendes Pingpongspiel in seinem Kopf, es macht ihm kein Vergnügen.
Ein anderer Gedanke formt sich in seinem Kopf. Vielleicht läuft das immer so. Vielleicht will einer immer mehr. Vielleicht hat jeder einen Moment, wo einem klar wird, dass man versehentlich gelogen hat bei den Worten: Ich liebe dich, Ich vermisse dich, Du bist hübsch, Du bist die Hübscheste, Ich möchte, dass du mich nie verlässt. Vielleicht geht dieser Moment aber auch bald vorüber, und all diese Worte werden wieder wahr, so wahr wie beim ersten Mal. Vielleicht geht diese Zeit auch nicht vorüber. Wenn die Zeit vorübergeht, wäre es eine kluge Entscheidung, das Ende abzuwarten. Wenn nicht, sollte man vielleicht nicht warten, man sollte sich einen anderen suchen, dem man diese Worte ohne zu lügen sagen kann. Aber womöglich passiert es immer, ganz gleich, welches Mädchen oder welchen Jungen man zu lieben versucht. In diesem Fall bleibt man besser, wo man ist, weil man dasselbe mit jedem anderen auch wieder erleben würde.
Er geht die Straße entlang, in der er lebt, seit er vor mehr als zehn Jahren nach Amerika kam. Der Bürgersteig wird mit jedem Tag maroder und tückischer, und Vaclav bemerkt, dass |171| er in all der Zeit, die er hier schon wohnt, niemals repariert worden ist.
Das Licht ist von der Straße fast verschwunden, als Vaclav die Eingangstür zu seiner Wohnung öffnet, und er riecht das Abendessen, noch bevor er die Hand vom Türknauf nimmt.
»Vaclav?«, ruft Rasia. »Setz dich! Wir warten schon! Essen wird kalt.«
»Ich dachte, es gibt Salat«, ruft Vaclav zurück.
»Es ist Salat. Der wird weniger kalt. Was immer.« Rasia sagt jetzt ständig »was immer«, etwas, das sie gehasst hat, als sie es zuerst im Fernsehen hörte, und noch mehr hasste, als sie es aus dem Mund ihres Sohnes hörte, bis sie selbst damit anfing und es sich so leicht und glatt in ihr Vokabular einfügte. Dieser Ausdruck, denkt Rasia, ist sehr nützlich. Er sagt Folgendes in nur einem Wort:
Ich mache mir nichts daraus
&* # @ you
Du bist angespannt
Ich bin relaxed und frei
Ich lass mich von deiner Angespanntheit nicht anstecken
Rasia dreht gern den Spieß um, damit ihr Sohn der Angespannte wird.
»Tut mir leid, Mama«, sagt Vaclav. Er versteht, dass die Eile fürs Abendessen nichts mit der Temperatur der Speisen, mit heiß oder kalt, zu tun hat, sondern nur mit der Zufriedenheit, die seine Mutter empfand, als sie das Essen für ihn zubereitete, und mit seiner unverständlichen Rücksichtslosigkeit, sie warten |172| zu lassen. Vielleicht ist das, denkt er, eine leicht egozentrische Sichtweise auf die Dinge, aber es hat sich immer wieder erwiesen, dass seine Mutter ausschließlich für ihn existiert. Alles, was sie tut, ist in gewisser Weise für ihn, und alles, was sie sich wünscht, ist gewissermaßen auch für ihn. Er kommt zu dem Schluss, dass er sie das fragen kann, was er den ganzen Tag hat fragen wollen.
Vaclav setzt sich auf seinen Stuhl am Küchentisch. Dieser Tisch ist immer ihr Küchentisch gewesen, solange Vaclav sich erinnern kann, wie der Bürgersteig immer der Bürgersteig gewesen ist, derselbe, ewig. Die Zeitspanne von Vaclavs Erinnerung lässt die Dinge alt erscheinen, aber dreizehn Jahre sind keine lange Zeit für einen Bürgersteig, um ohne Sanierung auszukommen, und dreizehn Jahre sind keine lange Zeit, um denselben Küchentisch zu haben. Dreizehn Jahre sind keine lange Zeit, um in einem Land zu leben, es ist eher eine sehr kurze Zeit. Andererseits können dreizehn Jahre eine lange Zeit sein. Dreizehn Jahre sind eine lange Zeit, um vom Land deiner Herkunft, deiner Heimat, weg zu sein. Selbst ein Jahr ist eine lange Zeit, um von jemandem getrennt zu sein und dennoch jeden Tag an ihn zu denken. Lena ist seit sieben Jahren fort, und Vaclav vermisst sie noch immer jeden Tag.
»Mama«, sagt Vaclav, als Rasia Oleg welken Caesar Salad mit gegrillten Hähnchenbruststreifen serviert.
»Denkst du je an Lena?« Seine Frage steht im Raum und verändert alles. Es gab eine nicht gestellte Frage in ihrer Familie, und jetzt ist sie gestellt worden, und die Luft ist aus dem Raum gewichen. Rasia häufelt ihrem Mann weiter den welken Salat auf den Teller.
|173| Vaclav weiß seit vielen Jahren, dass er diese Frage nicht stellen soll; sie ist die Spitze eines Eisbergs, der »Lena« heißen könnte oder auch »Was ist mit Lena passiert« oder »Was ist damals mit Lena passiert und was danach« oder auch »Die
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