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Vaclav und Lena

Vaclav und Lena

Titel: Vaclav und Lena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haley Tanner
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redet, die Toilette verlässt (nein, denk nicht daran, psssst), wird sie dieses Ich verlieren, zusammen mit dem Fleck. Es hat sicherlich andere Augenblicke wie diesen gegeben und andere Flecken, größer und weniger groß. Sie erinnert sich vage daran, dass sie über einen Augenblick nachgedacht und ihn mit einem bestimmten Schauplatz verknüpft hat. Sie hat sogar verschwommene Erinnerungen, dass sie sich selbst sagt, sie solle sich erinnern. Sie erinnert sich allerdings nicht an besondere Flecken. Sie nimmt sich vor, sich an die besonderen Flecken in ihrem Leben zu erinnern, beginnend mit diesem einen Fleck. Sie stellt fest, dass der Fleck der Schlüssel zum Leben als ganzheitliche Person ist, nicht als unzusammenhängendes Rätselwesen, das aus vielen verschiedenen Menschen zusammengesetzt ist und sich als eine Person auszugeben versucht. Sie macht den Reißverschluss ihres Rucksacks auf und will ein Stück Papier suchen, um ihre Gedanken aufzuschreiben.
    »Lena?« Eines der Mädchen in der Toilette für Behinderte sagt ihren Namen.
    »Lena?« Eine Reaktion wird verlangt, und somit ist die Toilette |191| unsicher geworden. Sie muss antworten, das gehört zum Vortäuschen, eine Person zu sein und nicht einfach viele Ichs, die auf einen Fleck schauen. Nicht zu antworten würde ihre Verfassung verraten. Eines von Lenas Ichs erkundigt sich bei den anderen: »In welcher Verfassung seid ihr?« Lena, das Konglomerat aus Ichs, ist sich unsicher, wie seine Verfassung ist, ist aber sicher, dass das Unvermögen, eine Antwort zu geben, ein Zeichen dafür wäre, dass die Ichs nicht als ein Ganzes funktionieren und nicht einmal in der Lage sind, nach außen hin etwas vorzutäuschen. Zumindest ein Ich von Lena ist beunruhigt, dass sie den Raucherinnen Anlass zur Sorge gibt, wenn sie nicht antwortet. Ein anderes Ich von Lena glaubt, es wäre ein guter Schachzug, zuzulassen, dass die Mädchen sich Gedanken um sie machen. Ein anderes Ich aber gerät bei diesem Gedanken in Panik und sammelt eine starke Truppe von Ichs, die dafür sind, zu antworten und sich zu verstellen. Weitere Ichs beobachten die Aufregung.
    »Lena?«
    Lena ist überzeugt, dass andere Menschen nicht so viele Ichs haben. Sie ist erschrocken, dass sie keinen Kern hat, keine wesentliche Lena. Sie hat das Gefühl, dass es den Kern früher gab, dass er unterwegs aber verloren ging, irgendwann begraben wurde oder erstickt und gestorben ist, denn wenn sie hinter das Geschwätz der Ichs schaut, ist da nichts. Vielleicht kommt das Gefühl der Zerbrochenheit daher, dass etwas in ihr tot ist oder fehlt.
    »Lena?«
    Wieder die Stimme. Lena redet ganz ruhig mit sich selbst. »Wenn wir die Fähigkeit haben, uns zu entscheiden, ob wir |192| unsere Verfassung offenbaren wollen oder nicht, ist jetzt nicht die Zeit, im Einzelnen zu erörtern, um welche Verfassung es sich handelt. Ich will damit sagen, dass wir noch die Kontrolle haben, wenn wir fähig sind zu entscheiden, und dass wir diese Kontrolle auch ausüben sollten.«
    »Lena? Bist du das? Alles okay?«
    Lena fühlt wieder den Spiegel hinter ihrem Hinterkopf und sieht ihre unzählig sich vermehrenden Ichs, und dieses Gefühl ist unangenehm. Dieser Spiegel hinter meinem Kopf, denkt sie, verwirrt meine Gedanken. Hat jeder so viele Ichs? Bringen die anderen ihre Ichs künstlich in Einklang? Wenn man gerade steht und geradeaus schaut, wird man die unzähligen Reflexe von sich im Spiegel nicht sehen, denn der Kopf verdeckt sie. Ist das die Lösung, oder sind die vielen Ichs die Lösung?
    »Lena?« Diesmal wird das Wort Lena (Ihr Name? Wie seltsam, einen Namen zu haben! Lena zu sein!) von Lippen ausgesprochen, Lippen in einem Gesicht an einem schwebenden körperlosen Kopf, der seinerseits auf dem Kopf stehend unter der Trennwand zwischen Lenas Toilettenzelle und der angrenzenden Zelle erschienen ist.
    »Hi, Serena«, antworten einige der Ichs, die anderen Ichs stellen sich hinter diesen Ichs auf, und die Dinge klären sich etwas. Serena hat sich vornübergebeugt, um in Lenas Toilette zu schauen. Dann richtet sie sich auf und wird wieder zu Füßen.
    Lena wartet.
    »Ja, sie ist es«, sagt Serena zu dem anderen Paar Füße in ihrer Zelle. Unter der Trennwand erscheint wieder ihr Kopf.
    »Bist du okay?«
    Lena schaut auf Serenas Gesicht. Ihr Kopf ist viel tiefer als |193| ihr Herz. Die Art, wie sie sich vorbeugt und zu Lena hochblickt, bewirkt Seltsames in ihrem Gesicht. Auf ihrer Stirn tritt eine große Ader hervor, und um ihre

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