Vaclav und Lena
war, und sie machten einen Spaziergang im Prospect Park. Sie fanden das Ei eines Rotkehlchens, das aus einem Baum gefallen war. Lena nahm es mit nach Hause und legte es auf ihren Nachttisch. Der nächste Tag lief noch etwas besser. Schließlich verbrachten sie immer weniger Zeit mit den Hausaufgaben und dafür mehr Zeit mit Spaziergängen und dem Aufsammeln von irgendwelchen Dingen.
In der Mittelschule waren ihre Lehrer begeistert von ihren Fortschritten, und ihre Noten waren ausgezeichnet. Lena war eine begeisterte Leserin, und ihr Vokabular erweiterte sich ständig. Eines Tages kam sie nach Hause und erzählte Emily, |247| dass eine Gruppe von Mädchen allein mit dem Zug zu einem Geburtstagsessen nach Manhattan fahren wolle.
»Ein klares Nein. Nein«, sagte Emily.
»Was?«, sagte Lena, anscheinend ungläubig, obwohl sie geahnt haben musste, dass Emily den Ausflug niemals erlauben würde.
»Du kannst nicht mit, Lena, keinesfalls.«
»Warum?«, wollte Lena ruhig wissen.
»Weil du zu jung bist und es gefährlich ist.«
»Du vertraust mir nicht?«
»Natürlich vertraue ich dir, es hat auch nichts mit dir zu tun, nur dem Rest der Welt vertraue ich nicht, Lena.«
»Also, warum hat es dann eine Bedeutung, dass ich jung bin?«, fragte Lena. »Wenn es nichts mit mir zu tun hat und die Welt einfach gefährlich ist, dann kann ich ja nie allein irgendwohin gehen, nicht wahr? Ich muss dann für alle Zeit zu Hause bleiben.«
»Nein«, sagte Emily, »eines Tages wirst du alt genug sein.«
»Aber du hast gesagt, es hätte nichts mit mir zu tun.«
»Du darfst nicht«, sagte Emily, »Ende der Diskussion.« Es war das erste Mal, dass Emily bewusst wurde, dass Lena sie mit ihren Argumenten in die Enge treiben konnte, und es sollte nicht das letzte Mal sein. Lena war dabei, die Macht ihres Verstandes und ihrer Worte zu entdecken, und Emily musste sich oft ermahnen, dass sie es mit einem Teenager zu tun hatte.
Sobald Lena in der Schule anfing, mit den anderen zu reden, fand sie schnell Anschluss. Es kam Emily so vor, als sei es für Lena leicht, beliebt zu werden, weil die anderen Kinder schon Angst vor ihr hatten. Sie war helle, bestimmt und lustig und |248| hatte eine Schar von Mädchen, die jedes Wochenende bei ihr übernachteten.
Mit sechzehn trat Lena in die Schülermitverwaltung ein, ihre Lehrer sagten, dass sie die Diskussionen im Unterricht anführte, aber sie machte sich immer noch unnötig Sorgen und blieb labil. Die Zeit der Hausaufgaben blieb ebenfalls ein Balanceakt. Lena saß stundenlang daran, manchmal bis spätabends. Sie schrieb und schrieb wieder um, prüfte und prüfte noch einmal. Wie es schien, hatte Lena sich die englische Sprache durch bloße Willenskraft eingeprägt, indem sie Grammatikregeln und Redewendungen auswendig lernte. Eine tief sitzende Angst, als dumm zu gelten und wegen Fehlern beim Sprechen von ihren Klassenkameraden ausgelacht zu werden, trieb sie an. Selbst als ihr Englisch makellos war, ließen ihre eiserne Disziplin und Kontrolle nicht nach. Sie war während der Arbeit ruhig, geriet aber bereits wegen kleiner Pannen außer sich. Alles konnte ein Auslöser sein: eine Gleichung, die sie nicht auf Anhieb zu lösen vermochte, eine leicht kritische Lehrerbemerkung zu einem Referat, an dem sie stundenlang gefeilt hatte.
Lena wirkte wie der Idealtyp eines Teenagers, aber Emily hatte das Gefühl, als befände Lena sich im Auge des Sturms.
|249| Lena will die Lücken füllen
»Du weißt aber nichts über deine wirklichen Eltern?«, fragt Serena. »Bei wem hast du denn gelebt, bevor du adoptiert worden bist und hierherkamst?«
»Nein, ich weiß nichts von meinen Eltern«, sagt Lena und zieht es vor, auf den zweiten Teil von Serenas Frage nicht einzugehen. Lena hat keine Lust mehr, mit Serena zu sprechen, sie hat keine Lust mehr, so viele Dinge zusammenschustern und verheimlichen zu müssen, und sie will auch keine Erklärungsversuche mehr abgeben. Lena mag die vielschichtigen Unklarheiten in ihrer Lebensgeschichte nicht, wo die der anderen scharf umrissen, farbig und glücklich sind wie eine Ansichtskarte. Lena hat keine Lust darauf, die scheußlichen Stellen in ihrer Lebensgeschichte zu überarbeiten, sie mag die Zeiten nicht, an die sie sich kaum erinnert, oder die Dinge, über die sie nur vage, von Person zu Person weitergereichte Informationen hat, und vor allem mag sie nicht, dass sich zwischendrin immer wieder riesige Lücken auftun, sodass es richtiggehend gefährlich ist, über
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