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Vaclav und Lena

Vaclav und Lena

Titel: Vaclav und Lena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haley Tanner
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Erinnerungen.
    |241| Die funkelnagelneue Mama: Emily erinnert sich
    Emily hatte Angst. Sie führte Lena durchs Haus, zeigte ihr, wie man die Mikrowelle benutzt, wie man den Stöpsel in die Badewanne einsetzt und wie man den Fernseher ein- und ausschaltet, weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte. Lena sagte nichts, und ihr Gesicht blieb ausdruckslos. Emily war besorgt gewesen, dass Lena verängstigt oder schüchtern sein würde oder niedergeschlagen, aber sie schien wie weggetreten, vollkommen regungslos. Sie hatte über Eltern nachgelesen, die vernachlässigte Kinder aus rumänischen Waisenhäusern adoptiert hatten, darüber, dass diese Kinder unfähig waren, menschliche Bindungen einzugehen, dass sie nie normal würden und sich sogar zu Soziopathen entwickeln könnten. Sie hatte über Eltern gelesen, die nach mühevollen Jahren schließlich zu dem Schluss kamen, dass die Kinder mehr brauchten, als sie ihnen geben konnten, und dass es nötig war, sie an Institutionen wegzugeben.
    Tage vergingen, und Lena blieb stumm. Emily brachte sie zu einer Therapeutin, einer reizenden Frau in einem Büro, in dem überall Spielzeug herumlag. Nach einer einstündigen Sitzung mit Lena rief sie Emily herein und teilte ihr mit, dass man Lena untersuchen würde und dass sie drei- bis viermal in der Woche zu Therapiesitzungen kommen müsse.
    Emily war damit nicht einverstanden. Sie brachte Lena nach Hause, und Lena sah vom Küchentisch aus zu, wie Emily Käsetoast machte.
    »Wir gehen da nie mehr hin, und du brauchst nie wieder zu |242| sprechen, wenn du nicht willst«, sagte Emily, »aber ich habe dir diesen Käsetoast gemacht, und das ist auf jeden Fall der beste Toast im ganzen Umkreis von New York, und es wäre wirklich großartig, wenn du jetzt ›danke‹ sagen würdest.« Emily schob Lena den Toast hin.
    »Danke«, sagte Lena.
    »Gern geschehen«, sagte Emily verblüfft.
    Der Schulbesuch war jedoch eine andere Geschichte. Jedes Mal, wenn Emily die Schule erwähnte, wurde Lena unruhig. Als Emily auf einer Einkaufstour für Schulsachen nicht verstand, welche Sorte von Bleistift Lena haben wollte, bekam diese einen Wutanfall und stieß ein Regal mit weißen Tafeln um. Sie verließen den Laden, ohne etwas zu kaufen.
    Nichts von dem, was Emily tat, um Lena vorzubereiten, schien hilfreich. Sie spazierten einige Male zur Schule, trafen Lenas Lehrer und ließen sich durch die Korridore, die Bibliothek und die Sporthalle führen. Und doch zitterten Lena am Morgen des ersten Schultages die Hände, während sie ihre Cornflakes aß. Emily verbrachte den ganzen Tag auf einer Bank in der Nähe und versuchte zu lesen. Am Ende des Schultages ging Emily mit Lena nach Hause. Lena weigerte sich zu sprechen und antwortete auf keine von Emilys Fragen über ihre Lehrer, die anderen Kinder oder die Bücher, die sie gerade im Unterricht lasen.
    Am dritten Schultag wurde Emily zu einer Besprechung zitiert.
    »Sie bekommt jeden Tag Wutanfälle«, sagte Miss Rhys. Emily saß unbehaglich auf einem kleinen Klassenzimmerstuhl und hielt ihre Handtasche auf dem Schoß.
    |243| »Das ist überraschend, sie macht nämlich wirklich Fortschritte«, sagte Em.
    »Ach, wirklich«, sagte Miss Rhys und hob die Augenbraue.
    »Zu Hause redet sie und kann sich ausdrücken   …«
    »Wird sie zu Hause auch wütend?«, fragte Miss Rhys.
    »Manchmal ist sie frustriert, das stimmt«, sagte Emily und wollte nicht zugeben, dass Lena wütend wurde, wenn sie sich gemeinsam an die Hausaufgaben setzten.
    »Also, im Unterricht stört sie ziemlich, sie schlägt auf ihr Pult, und, das lässt sich schwer beschreiben, sie macht diesen Laut. Sie kreischt.« Emily kannte den Laut genau, auf den Miss Rhys anspielte, ein erstickter rauer Schrei, den Lena hinten in der Kehle erzeugte. »Die anderen Kinder scheinen Angst vor ihr zu haben.«
    Emily hörte das irgendwie erleichtert, denn sie hatte befürchtet, dass man sich über Lena lustig machte oder sie schikanierte.
    »Hören Sie«, sagte Emily, »sie braucht vielleicht etwas Zeit, um sich einzuleben.« Emily hatte eine Heidenangst, dass diese Lehrerin Lena von der Schule entfernen wollte.
    »Sie werden verstehen, dass ich es nicht zulassen kann, dass eine Schülerin die Sicherheit unserer Lernumgebung gefährdet   …« Emily unterbrach sie, sie wollte das Ende dieses Satzes nicht hören.
    »Das verstehe ich. Es wird sich bessern, ganz gewiss, und ich danke Ihnen, dass Sie so verständnisvoll sind.«
    Emily verließ aufgebracht

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