Vaclav und Lena
all die Tage nachzudenken, die zum heutigen führen.
Sie hat Em einmal von diesem Gefühl erzählt, nämlich dass sie nicht gern über die Vergangenheit nachdenkt, aus Angst, sie werde auf schwarzes Eis oder auf einen schwarzen Tümpel oder sonst einen düsteren Fleck stoßen. Und Em hatte geantwortet, dass viele Erwachsene sich dauernd so fühlten. Lena fragte Em, ob jemand, der noch jung sei, sich auch so fühle, worauf Em zur Antwort gab, nein, die meisten Menschen hätten eine schöne Kindheit hinter sich und blickten gern darauf zurück, und erst, |250| wenn sie älter würden, wenn sie Fehler gemacht hätten, wenn Kummer und Unglück sich eingestellt hätten, würden sie aufhören, zurückzudenken. Die meisten, nicht alle. Man müsse seinem Glück entgegensehen statt zurück, das sei alles.
Und genau das will Lena nicht: nur den Dingen entgegensehen und nicht zurückschauen. Sie möchte die Lücken füllen.
»Ich möchte bloß die Lücken füllen.«
»Nichts wie ran, Mensch«, sagt Serena und meint es ernst.
Lena fasst den Beschluss, dass sie die Lücken füllen wird. Sie wird Vaclav suchen und finden. Sie wird ihn dazu bringen, ihr bei der Suche nach ihren Eltern zu helfen. Sie hat daran gedacht, Em zu bitten, ihre Eltern zu suchen, hat den Gedanken aber sofort fallengelassen. Nicht, weil ihre Beziehung zu Em heikel wäre oder Em es ihr nicht erlauben würde, sie weiß selbst nicht warum. Sie könnte es einfach nicht ertragen, Em sorgenvoll, verletzt oder enttäuscht zu sehen. Sie möchte nicht einmal daran denken.
»Danke«, sagt Lena zu Serena.
»Nichts da. War mir ein Vergnügen«, sagt Serena, und plötzlich ist Lena bereit (alle ihre Ichs sind bereit), auf den Gang und zurück in den Tag zu gehen. Erst als Lena auf dem Gang ist, um sich mit ihren Freundinnen zu ihrem Geburtstagsessen zu treffen, fällt ihr der Fleck mit seinem sich selbst nicht reflektierenden Flecksein ein. Sie hat vergessen, sich von ihm zu verabschieden, ihn in ihrem Gedächtnis zu verorten, und jetzt ist sie überzeugt, dass er wie all die anderen Flecken verschwinden wird.
|251| WIEDER ZUSAMMEN
|253| Die Welt war auseinandergefallen und hat sich wieder zusammengefügt
Nichts beim Essen mit den Freundinnen hat für sie Bedeutung, auch die Heimfahrt im Taxi hat keine und auch nicht der Abend zu Hause mit Em. Lena ist so aufgeregt, so nervös, so aufgeputscht, dass jeder Augenblick wie eine Stunde ist und jede Stunde sich grotesk aufbläht und die Zeit überhaupt nicht vergeht. Aber natürlich vergeht die Zeit, das ist eine jener universellen Wahrheiten: Egal, wie viel Schmerz, wie viel Freude, wie viel Nervosität, wie viel Sorge, wie viel Verliebtheit, wie viel Angst, wie viel Jucken und Kratzen, wie viel Fieber, wie viel Verfall, am Ende vergeht die Zeit. Und plötzlich steht sie vor dem unmöglichen Ereignis, und die Stunden, selbst die Stunden, die sich eben noch wie Jahrtausende hingezogen haben, fallen im Nachhinein in sich zusammen, und das Warten scheint eigentlich unglaublich schnell vergangen zu sein, und diese Stunden scheinen nie existiert zu haben. Das jedenfalls empfindet Lena, als sie um halb elf abends an ihrem siebzehnten Geburtstag endlich allein in ihrem Zimmer ist und zum Hörer greift, um Vaclav anzurufen.
Weiß Lena, dass Vaclav genau im gleichen Augenblick an sie denkt (in Wirklichkeit
nicht
an sie denken will)?
|254| Sie schließt die Tür ab und setzt sich ans Telefon. Ohne zu zögern wählt sie Vaclavs Nummer. Eine siebenstellige Zahl, die ihr Gedächtnis vergraben hat, seit sie neun war, und die ein effizienter, aber ruhiger Teil ihres Gehirns jetzt mit der gleichen Selbstverständlichkeit wählt, wie sie ihr Gleichgewicht hält, atmet oder verdaut. Ihre Finger wissen einfach, was zu tun ist. So ist das mit der Telefonnummer eines Jungen, den man liebt. Geliebt hat. Lieben wird. Was immer.
Während das Telefon klingelt, denkt Lena an die Möglichkeit, dass jemand anders abnehmen könnte. Es ist 22.30, eine etwas unpassende Zeit, um jemanden anzurufen. Ruhig lässt sie es klingeln, sie weiß eigentlich, wer abnimmt. Sie weiß, er wartet auf ihren Anruf.
Vaclav ist zum ersten Mal eingeschlafen, ohne Lena Gute Nacht zu sagen, als das Telefon am Bett läutet. Er greift danach, und noch bevor er Hallo sagen kann, macht sein Herz einen Sprung.
»Hallo?«, sagt er, aber beide wissen, wer jeweils am anderen Ende der Leitung ist.
»Hier Lena.« Was soll sie sonst sagen.
»Hier Vaclav.« Was
Weitere Kostenlose Bücher