Vaclav und Lena
nur, bist du es hörst, weißt du, was Lena gesagt hat? Aber sie sagen nichts dergleichen, sie behalten die Dinge mit Bedacht für sich.
Denkt Vaclav daran, seiner Freundin Ryan diese Neuigkeit zu erzählen? Nein, Vaclav denkt nur daran, dass er Lena am |258| Montag nach der Schule trifft. Er denkt überhaupt nicht an Ryan. Und Lena beginnt, an ihrem Plan zu arbeiten.
Zu viel ist immer noch nicht genug
Lena schwänzt nie die Schule, aber an diesem Montagmorgen entscheidet sie, dass die Vorstellung, heute die Schule zu besuchen, unerträglich ist. Diese Entscheidung beruhigt Lena. Sie mag klare Kategorien, das Absolute daran, und die Schule ist heute absolut unerträglich. Die Vorstellung, in der Mathestunde zu sitzen, ist unhaltbar. Einfach unhaltbar. Das ganze Wochenende über hat sich ihre Unruhe gesteigert. Sie musste immer wieder an Vaclavs Stimme am Telefon denken und wurde atemlos. Einfach unhaltbar.
Lena geht aus der Schule und fährt mit dem Bus und einmal Umsteigen nach Fort Greene. Dann sitzt sie gegenüber von der Brooklyn Technical High School auf einer Bank und wartet drei Stunden auf Vaclav. Sie schaut sich das Gebäude an, zählt die Stockwerke, die Fenster und Türen. Vaclav ist in einem der Klassenzimmer, sitzt auf einem Stuhl, hört dem Lehrer zu, er ist da drin. Er lebt, ist eine reale Person und wahrscheinlich nervös vor dem Wiedersehen. Hilft ihr das, die eigene Anspannung zu bekämpfen? Nicht sehr.
Es ist ein Herbsttag, eindeutig Herbst, aber warm. Die Luft ist nicht herbstlich kühl, es ist ein angenehm trockener Tag. Das |259| Laub färbt sich unmerklich, bislang sind nur die Spitzen der Blätter orangefarben, verlieren ein wenig von ihrem Grün, aber das Ganze hat noch nichts Heftiges oder Dramatisches.
Auf dem Bürgersteig kommen schon Grüppchen von Kindern vorbei, obwohl die Schule noch nicht aus ist. Sie haben Freistunden, oder sie haben die Schule früher verlassen, oder sie schwänzen den Unterricht. Am wahrscheinlichsten ist aber, dass an einer Schule von der Größe der Brooklyn Tech immer ein paar Kinder zu viel sind, die dann nach draußen auf den Bürgersteig strömen.
Lenas Bank steht unter einem Ahorn, der Windrädchen herunterschickt, kleine grüne, zweiflüglige Flieger, als machte sich die Natur einen Spaß und brächte Bäume hervor, die ihre Samen kunstvoll trudeln lassen. Lena hebt einen der kleinen Flieger auf, teilt ihn in der Mitte und faltet einen der kleinen Flügel zurück, wobei ihr
Kotyledone
, Keimblatt, aus dem Biologieunterricht einfällt und dass das hier von einer
Dikotyle
stammt, einer zweikeimblättrigen Pflanze, sie hat aber vergessen, was
Monokotyle
oder
Dikotyle
genau bedeuten.
In der Schule läutet es, und zwar so laut, dass auch Lena es hören kann. Innerhalb von Sekunden werden Türen aufgerissen, und Kinder schießen auf die Straße hinaus. Lena überfällt ein Gefühl der Beunruhigung. Zu viele Kinder. Unmöglich, sich da wiederzuerkennen, er wird sie niemals sehen, und sie möchte nicht zu eifrig in die Menge starren, den Hals gereckt, um zu raten. Sie möchte, dass er sie einfach findet, einfach da ist. Die Schüler machen einen unglaublichen Lärm, einige schreien und kreischen, anscheinend nur, um ihre Stimmen nach einem Tag erzwungener Ruhe zu gebrauchen, alle sprechen laut, lachen |260| laut, schreien einander ausgelassen zu. Einige Jungen begrüßen einander mit wilden vogelähnlichen Rufen.
Lena kann sich eine solche Geräuschkulisse an ihrer Schule nicht vorstellen. Vielleicht kommt es einem nicht so laut vor, wenn man Teil davon ist. Lenas Schule ist klein, wunderschön, privat und ruhig.
Auf dem Bürgersteig vor der Schule gibt es verschiedene Grüppchen von Schülern, alle sind sie extrem auffällig gekleidet. Nicht etwa normal mit modischen Accessoires, sondern richtiggehend verkleidet, es ist eindeutig übertrieben. Sie denkt etwas zu selbstgefällig an ihre kleine Schule, wo jeder so sein kann, wie er ist, und dann überkommt sie ein Gefühl – privilegiert zu sein? Glück zu haben? Ein unbekanntes Gefühl. Diese Schule, wo man in jeder Hinsicht so laut sein muss, so groß, wäre ihr zu aufreibend. Es würde wehtun.
In einem der Grüppchen bemerkt sie einen Jungen, der größer ist als alle anderen. Er ist einen Kopf größer, gute dreißig Zentimeter, und er ragt aus der Menge heraus. Er wendet sich im Gespräch jemandem zu, und Lena sieht sein Gesicht. Es ist unverkennbar Vaclav, aber er sieht völlig anders aus. Er ist
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