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Vaclav und Lena

Vaclav und Lena

Titel: Vaclav und Lena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haley Tanner
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lagen ebenfalls überall Sachen herum, Plastikbehälter, Büchsen, Dosen, Verpackungen, |238| aber eine der Schranktüren fehlte, und Lena konnte sehen, dass wenigstens einer der Schränke völlig leer war.
    Dann kam die Tante aus dem Zimmer und trug einen zweiteiligen Badeanzug. Ihr Körper war orangefarben, jedenfalls überwiegend, und an ihrem Nabel hing ein Ohrring. Sie hob ein Paar Jeans vom Boden auf, zog sie an und knöpfte sie so hastig zu, als wäre sie auf ihre Beine böse.
    Lena stand immer noch zwei Schritte von der Eingangstür entfernt da, und die Tante verhielt sich so, als wäre Lena gar nicht vorhanden. Das Nächste, was die Tante tat, war höchst seltsam. Die Tante rieb sich rosaroten Lipgloss aus einem Töpfchen auf die Lippen, dann zog sie eins der Dreiecke ihres Bikinioberteils zur Seite und rieb sich den rosaroten Lipgloss auf die Brustwarze und zwickte sie dreimal, dann schob sie das Dreieck wieder darüber und machte dasselbe mit der anderen Brustwarze. Zum Schluss nahm sie ein Sweatshirt vom Boden auf und streifte es über.
    »Ich gehe zur Arbeit«, sagte sie, hob ihre Handtasche auf, warf die Tür mit einem Knall hinter sich zu und war verschwunden.
    Lena war erleichtert, dass sie weg war, aber auch sehr hungrig. Sie schaute sich in der Küche um, und da fand sich rein gar nichts, was nach Essen aussah. Aus einem Behälter im Kühlschrank aß sie Reis. Der Reis war kalt, weiß und körnig, aber Lena aß alles auf.
    Sie ging zur Couch und schuf sich ein Plätzchen zwischen Kleidungsstücken und Illustrierten und schlief ein.
    Als Lena aufwachte, war es draußen dunkel, und sie wusste nicht, wieviel Uhr es war, und auch nicht, wie man den Fernseher |239| anmacht, um allem seine Unheimlichkeit zu nehmen, und sie wusste auch nicht, wo die Lichtschalter waren. Also blieb sie auf der Couch sitzen und gab sich Mühe, nicht zu weinen, aus Angst, nicht mehr aufhören zu können.
    Die funkelnagelneue Mama: Lena erinnert sich
    Lena denkt an die Tage, die sie allein in der Wohnung der Tante verbracht hat, und an den Tag, an dem sie Vaclav kennenlernte. Lena möchte Serena nichts von Vaclav erzählen. Sie hält Vaclav tief im Innern, in ihrer Brust, zwischen zarten Rippen und ihrem pochenden Herzen verborgen, so besonders, so heilig ist er ihr, dass sie es nicht einmal ertragen kann, jemandem gegenüber seinen Namen auszusprechen, er ist ein Geheimnis, das sie ewig bewahren wird, wie die Bettdecke, die dem Kind heilig ist wie ein Talisman, und sie kann es nicht aushalten, dass jemand anders mit ihm in Berührung kommt, sei es auch nur, indem fremde Ohren seinen Namen hören.
    Sie selbst scheut sich, an die vollkommene Erinnerung zu rühren, die sie an Vaclav hat. Sie hat sich Fragen über ihn gestellt, vor allem in den letzten Jahren, aber sie hatte Angst, ihn aus ihrem Gedächtnis hervorzuholen und ihn vielleicht an das reale Leben zu verlieren.
    Lena denkt an die Gutenachtgeschichte, die Vaclavs Mutter |240| ihr erzählt hat. Sie erinnert sich noch fast Wort für Wort an sie. Sie denkt an den Schluss, daran, wie der Junge es nicht ertragen kann, in der letzten Nacht unter dem Fenster des Schlosses zu warten, lieber will er sein Glück verpassen und unwissend bleiben. Sosehr sie sich davor fürchtet, ihre perfekte Erinnerung von Vaclav zu verlieren, so wenig möchte sie Vaclav an die Sicherheit des Nichtwissens verlieren. Sie möchte Vaclav anrufen, möchte ihre Eltern finden, jetzt gleich, auf der Stelle.
    »Ich finde, mit neun adoptiert zu werden ist schon faszinierend«, unterbricht Serena Lenas Gedanken. »Wie war das denn, so plötzlich eine funkelnagelneue Mama zu kriegen?«
    »Irgendwie machte es Angst, aber irgendwie war es auch schön«, sagt Lena.
    Die ersten Tage, die sie mit Emily verbrachte, sind in Lenas Erinnerung die besten in ihrem Leben. Sie erinnert sich daran, wie Emily ihr das Haus gezeigt und ihr gesagt hat, dass es auch ihr Haus sei, wie sie ihr gesagt hat, das werde für immer ihr Zuhause sein, sie müsse nie mehr von dort wegziehen, müsse nie wieder fort. Sie erinnert sich an das erste Mal, als sie ihr Zimmer mit ihrem eigenen Bett gesehen hat, einem Himmelbett mit Decken und vielen Kissen. Und sie erinnert sich, dass es da einen großen Schrank gab, voll leerer Kleiderbügel, und dass Emily ihr sagte, sie würden Lena jedes Kleid kaufen, das sie auf diesen Bügeln haben wollte. Für Lena war es vollkommen, es war ein wahr gewordener Traum.
    Emily hat andere

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