Vaclav und Lena
Immer jeweils einen Dollar«, sagt sie.
Das ist wieder die Überlegung einer Person, die klug genug ist, um zu wissen, dass sie klug ist und dass selbst in der sehr großen Welt niemand wesentlich klüger ist, und dadurch lässt sich alles erreichen. Der Wunsch, seine leiblichen Eltern zu finden, hat nichts Kindliches. Das Verlangen danach muss angeboren, |267| natürlich und ewig sein, überlegt er. Lena gleicht einer Brieftaube, einem Bumerang.
Sie ist noch nicht fertig.
»Die Hauptsache ist: Wir können dorthin, wenn wir es uns nur vornehmen. Wenn wir uns nur vornehmen, dass uns das gelingt, dann wird es uns auch gelingen. Ich weiß, dass du das auch so siehst. Im Großen und Ganzen.«
»Weißt du, was Houdini einmal gesagt hat? Er hat gesagt: ›Ich habe Dinge getan, die ich eigentlich nicht hätte tun können, weil ich mir gesagt habe, du musst.‹«
»Das mag ich«, sagt sie.
»Das hab ich mir gedacht«, sagt er, und beide werden rot. »Erst einmal, ja, natürlich komme ich mit.« Lena hat nie daran gezweifelt. Sie nickt.
»Ich will nur noch ein paar Fragen und Gedanken zu deinem Plan loswerden. Aber ich will nicht, dass du dir Sorgen machst, dass ich nicht mitmache, das tue ich, ganz bestimmt«, sagt er »Zuerst einmal, bist du dir hundertprozentig sicher, dass sie in Russland sind?«, fragt er.
»Ja.«
»Wieso? Wenn du nicht weißt, wo sie sind, wie kannst du dir da sicher sein, dass sie nicht hier sind?«, fragt er.
»Wenn sie hier in Amerika wären, hätten sie schon Kontakt zu mir aufgenommen. Sie hätten mich in dieser ganzen Zeit sicher gefunden.« Lena sagt das, als wäre das eine Tatsache. Vaclav ist sich da weniger sicher.
»Und wie willst du wissen, dass sie noch am Leben sind?«, und sogleich fragt er sich, ob er diese Frage stellen darf, denn es ist wirklich eine grausame und schreckliche Frage.
|268| »Das ist egal. Wenn ich sie finde und sie sind tot, dann habe ich sie trotzdem immer noch gefunden. Ich möchte nur die Lücken füllen. Ich möchte nichts von ihnen. Ich möchte nur Bescheid wissen. Ich möchte wissen, warum sie hierhergekommen sind und warum sie mich verlassen haben. Ich glaube, jeder würde das wissen wollen.«
Vaclav denkt daran, wie auch seine Eltern nach Amerika gekommen sind und ihn mit hierher gebracht haben. Er überlegt, dass sie in all den Jahren nicht viel darüber geredet haben. Weder seine Mutter noch seinen Vater hat er je danach gefragt, wie ihr Leben in Russland war, warum sie alles zurückgelassen haben oder sonst irgendetwas. Ihre Gespräche beim Abendessen haben sich immer um die Schule, um Politik und alles mögliche andere gedreht. Vaclav hat an sein Leben in Russland, als er klein war, nur noch wenige Erinnerungen. Er kann sich an einen Tag erinnern, an dem er mit einem anderen kleinen Jungen draußen vor ihrem großen Wohnblock gespielt hat, und an einen Spielzeug-Kosmonauten zum Aufziehen, um den er geweint hat, als er nach der Landung in Amerika bemerkte, dass er ihn zurückgelassen hatte. Er kann sich erinnern, dass er sein Houdini-Buch mit ins Flugzeug genommen hat. Aber das sind nur seine vagen Kindheitserinnerungen, das Leben vor Vaclav kommt nie zur Sprache. Vaclav möchte Lena das erzählen, ihr sagen: Meine Eltern leben mit mir zusammen, und doch weiß ich nichts von den Dingen, von denen du annimmst, dass sie die meisten Menschen wissen. Doch er sagt es nicht. Ich könnte es ja erfahren, wenn ich wollte, denkt er, und das ist der Unterschied.
»Wirst du es deinen Eltern sagen?«, fragt er, und ihm wird |269| wieder einmal bewusst, dass die elementaren Dinge in Lenas Leben, die er nicht kennt, eine lange Liste ergäben.
»Dem Elternteil. Da ist nur meine Mama. Nein, werde ich nicht, weil sie mich niemals allein reisen lassen würde. Allein? Nach Russland? Niemals. Es muss ein Geheimnis bleiben.«
Das ist eine Mission. Vaclav versteht sich auf Missionen, versteht das Verlangen nach Geheimhaltung bei einer so wichtigen Angelegenheit.
»Ich sage es meiner Mama auch nicht, sie würde ausrasten.«
Lena zuckt bei der Erwähnung von Vaclavs Mutter zusammen und fragt sich, warum. Warum beunruhigt sie ihre Erwähnung? Ihr Gehirn ist manchmal voller Lücken. Vaclav hier zu haben tut gut, aber gleichzeitig hat sie das Gefühl, als drücke er auf einigen dunklen, empfindlichen Stellen herum. Seine Fragen sind schwerer zu beantworten, schwerer aufzunehmen als erwartet, so als drücke er auf verkümmerte Muskeln.
»Ja«, sagt sie, »ich finde, es
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