Vaclav und Lena
Nachmittag?«
»Nein.«
»Gut, ich hab nämlich noch nicht gepackt.«
»Ich meine es ernst«, sagt sie.
»Wann?«
»Das wird sich finden.«
»Und wohin gehen wir jetzt?«
»Vielleicht etwas essen?«, sagt sie.
»Okay, cool. Ich hab nämlich Kohldampf.«
»Ich nicht.«
»Ich hab immer Hunger.«
|264| »Bestimmt, weil du noch wächst.«
»Glaubst du? Wir könnten eine Pizza essen. Magst du Pizza?« Was für eine seltsame Frage an die wichtigste, die besondere, die geheime Person in seinem Leben, aber er muss nachfragen, denn er weiß es nicht. Er hat Lena nie eine Pizza essen sehen.
»Ich hab keinen Hunger«, sagt sie, »aber ich setz mich zu dir. Wir haben viel zu bereden.«
»Mach keinen Scheiß.« Sie ist überrascht, diesen Kraftausdruck von ihm zu hören, aber das macht ihr bewusst, dass sie nun erwachsen sind, und das ist aufregend. Der Russland-Plan geht ihr im Kopf herum, und sie bewegt ihn hin und her wie einen lockeren Zahn und will spüren, ob an ihm etwas dran ist. Manchmal ist das so, manchmal nicht. Manchmal fühlt er sich gut an, manchmal ganz schlimm. Heute fühlt er sich wirklich gut an. Ganz und gar machbar.
Seite an Seite gehen sie den Bürgersteig entlang und schauen auf ihre Füße. Sie sind es nicht gewohnt, miteinander Schritt zu halten, sie haben noch nicht das gleiche Schritttempo wie Ehepaare in der Stadt oder alte Freunde. Vaclav geht langsam, um Lena nicht zu verlieren, und sie drücken sich linkisch an Laternenpfählen und Menschengruppen vorbei, und auch das Überqueren der Straße ist unbehaglich.
»Was hast du so gemacht?«, fragt Vaclav.
»Eine Menge. Und was hast du so gemacht?« Sie lächelt, es ist so seltsam, ihn danach zu fragen. Es ist, als träfe man den Präsidenten und sagte: Hey, wie geht es Ihnen?
»Immer noch dasselbe«, sagt er und meint damit das Gleiche wie damals, als sie wegging: Noch immer die Zauberkunst, noch immer versuche ich, mich in meinen Gedanken um dich |265| zu kümmern, noch immer versuche ich, Ereignisse mit übernatürlichen Kräften zu kontrollieren.
Wenn man etwas ganz fest will, dann wird es auch gelingen
Lena und Vaclav können nicht glauben, dass sie sich in einem Pizza-Drive gegenübersitzen und Pizza bestellen, so als wäre alles normal.
Zu ihrer beider Glück geht Vaclav davon aus, dass man beim Essen nicht spricht, und Lena stellt es nicht infrage. Vaclav frisst wie ein Scheunendrescher. Lena fürchtet, dauernd Spritzer von der Soße und dem geschmolzenen Käse abzubekommen. Während Vaclav seine ersten drei Stücke isst, pickt sich Lena den Käse von einem Stück ab und erklärt ihren Russland-Plan.
»Ich möchte meine Eltern finden. Ich meine, meine biologischen Eltern. Ich habe jetzt eine Mama, meine echte Mama. Sie hat mich adoptiert. Ich liebe sie. Über meine wirklichen Eltern will ich nur Bescheid wissen.« Vaclav bemerkt die Freundlichkeit in Lenas Stimme, als sie über ihre neue, ihre jetzige Mama spricht.
»Ich möchte, dass du mitkommst. Es wird echt schwierig werden, sie zu finden. Ich weiß noch nicht, wie ich das angehe, aber ich bin mir sicher, dass wir sie finden können. Das kann doch nicht unmöglich sein. Sie sind sicher dort, wir müssen also |266| nur herauskriegen, wie man sie findet. Mithilfe von Papieren oder so was.«
Vaclav macht eine Pause beim Essen und richtet einen Moment lang seinen Blick auf Lena. Er will ihr eine Frage stellen, aber sie spricht weiter.
»Bevor es losgeht, recherchieren wir, was das Zeug hält, und wir können vielleicht auch einiges erreichen, aber bestimmt stoßen wir an unsere Grenzen, und wir brauchen Informationen, die wir wohl erst bekommen, wenn wir tatsächlich vor Ort sind, verstehst du? Wir müssen womöglich an Türen klopfen und Fragen stellen oder in obskuren Institutionen irgendwelche amtlichen Bescheinigungen aufzutreiben versuchen, was immer.«
Es wird Vaclav rasch klar, dass Lenas Planung sich sehr auf Fernsehsendungen stützt. Andererseits beruht ihr Ungestüm sehr auf der Zuversicht einer Einser-Schülerin, der Zuversicht, dass sich mit Fleiß, harter Arbeit, Einsatz, gründlicher Recherche, Befragungen, sorgfältiger Planung jedes Ergebnis erzielen lässt. Vaclav hängt dieser Art von Lebensentwurf ebenfalls an. Deshalb ist er auch überzeugt, dass er eines Tages ein erfolgreicher Zauberer sein wird. »Das Problem ist nur das Hinkommen, vor allem das Geld dafür. Aber das ist doch bloß eine Zahl und bei jedem Zählen fügt man immer nur eine Zahl hinzu.
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