Vaclav und Lena
ist das Beste, wenn niemand etwas weiß. Es ist einfacher.«
»Okay.« Er fragt sich nicht einmal, warum sie allein gehen müssen, warum es also ein Geheimnis bleiben muss, er liebt es, mit Lena wieder ein Geheimnis zu teilen.
Sie verlassen die Pizzeria, und Lena sagt, dass sie zu einer Sitzung müsse. Schülermitverwaltung. Ja, das ist langweilig. Sie ist die Vorsitzende, und es ist trotzdem langweilig. Ja, gut für College-Bewerbungen. Das Gespräch, dieser Small Talk über Schulpolitik, alles nur Worte, um nur etwas zu sagen, während sie einander anschauen. Sie möchten sich nie mehr voneinander trennen und wissen daher auch nicht, wie sie sich voneinander verabschieden sollen.
|270| »Warte mal! Was ist mit deiner Tante? Könnte die uns nicht helfen? Wohnt sie noch auf der Siebten?«
»Sie ist fortgezogen«, sagt Lena, »zurück nach Russland.«
»Das ist Pech. Sie weiß wahrscheinlich Bescheid, oder?«
»Ja«, sagt Lena, »ich wünschte, ich könnte sie fragen, aber sie ist weg.«
Zwischen ihnen entsteht eine Pause, und Vaclav füllt sie mit »Kann ich dich morgen wiedersehen«, und Lena springt schon bei »morgen« mit »ja« drauf. Hier, nach der Schule. Okay, sagen sie viel zu oft, okay, okay, okay, und lächeln wie blöd. Gerade wollen sie sich voneinander abwenden und auseinandergehen, ohne eine Ahnung zu haben, wie sie die Trennung durchziehen sollen, da tun sie einen Schritt nach vorn und kommen sich zum Umarmen nahe, was das einzig Vernünftige zu sein scheint, sobald sie es tun. Zwei Freunde, die sich lange aus den Augen verloren haben, umarmen einander. Vernünftig. Nur, dass es zu viel Kontakt zwischen Hals und Hals gibt, der weichen Haut zwischen Hals und Kiefer, und zu wenig freundschaftlichen Elan, aber zu viel von einer Welt, die verstummt, während sie einander festhalten.
Als Vaclav seiner Wege geht, fällt ihm ein, dass er ihr von seinem neuesten Zaubertrick hat erzählen wollen, dem Ägyptischen Sarkophag des Geheimnisses. Wie toll hätte sie das gefunden, denn als Kinder haben sie immer davon geträumt, ihn zusammen zu bauen, und er hat es schließlich zuwege gebracht. Es ist ein Trick für zwei, und er hat noch nicht dafür proben können. Er hat immer auf Lena gewartet.
|271| Der nächste Tag und die vielen anderen davor
Sie sitzen unter einem Baum im Fort Greene Park. Sie sitzen auf dem Boden und fahren mit den Fingern durchs Gras. Gut, dass es hier Gras gibt, denn so haben sie etwas, woran sie zupfen und ziehen und worauf sie beim Sprechen den Blick richten können.
Lena schaut aufs Gras, und Vaclav schaut sie an. Er kann immer noch nicht glauben, dass sie bei ihm ist.
Lena möchte Vaclav alles erzählen, sagt sie, und dann erzählt sie ihm fast alles.
Sie erzählt ihm, was sie von der Zeit weiß, bevor sie sich kennenlernten. Darüber haben sie nie gesprochen, als sie neun Jahre alt war. Sie erzählt ihm von Radoslava Dvorakovskaya und von dem Tag, als Lena sie tot in der Badewanne gefunden hat. Sie weiß nicht, sagt sie, wo sie vor Radoslava war oder wie sie zu ihr gekommen ist. Sie erzählt ihm, wie sie auf ihre Tante gewartet hat, über ihr Malen und davon, wie sie nichts sagen konnte.
Vaclav ist so froh, so unglaublich froh, dass sie ihm alles erzählt.
Er fragt sie, woran sie sich erinnert, als man sie weggebracht hat. Sie erzählt ihm vom Jugendamt und wie sie zu Em gekommen ist. Erzählt von dem Tag, an dem Em ihr am zweiten Tag nach Lenas Ankunft mitgeteilt hat, dass sie sie adoptieren werde. Und wie sie und Em sich für einen Namen entschieden haben: »Em« waren die Anfangsbuchstaben, die erste Silbe ihres Namens Emily und auch der erste Buchstabe von Mama, und |272| somit ein Weg, Lenas neue Mama gleichzeitig Emily und Mama zu nennen, ohne sie direkt mit dem einen oder dem andere Namen anzureden.
Vaclav bemerkt, dass Lena Dinge auslässt. Sie lässt den Teil über seine Mama weg, als diese die Polizei gerufen hat. Er nimmt an, sie überspringt es, weil es ihr peinlich ist, darüber zu reden, denn seine Mama war schließlich schuld daran, dass Lena weggebracht wurde. Er hat es seiner Mutter immer vorgeworfen, und natürlich vermutet er dasselbe von Lena. Natürlich ist er längst nicht mehr wütend. Er weiß, seine Mutter meinte, sie helfe nur, als sie überreagiert und alles ruiniert hat und Lena dann weggeholt wurde. Sie hat die Polizei gerufen, bloß weil Lena oft allein zu Hause und ihre Tante eine Stripperin war. Er ist sehr froh, dass Lena es bei Em
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