Vaclav und Lena
-Station hinunter, und die Zementstufen unter ihren Füßen sind ihr fremd. Die Station ist seltsam, wie ein Ort, an dem sie noch nie gewesen ist. In ihrem Kopf überschlagen sich immer noch die Gedanken, und sie will nicht weg von Vaclav sein, seit neunzig Sekunden ist sie schon fort von ihm, viel zu lange. Sie möchte zurückgehen, tut es aber nicht.
Vaclav bleibt eine Weile sitzen, für den Fall, dass sie zurückkommt. |279| Dann geht er langsam nach Hause, steigt langsam die Treppe hinunter und lässt sich in der U-Bahn auf einen Sitzplatz fallen. Er schaut zu Boden, schaut zum Fenster hinaus. Er hat sich seit dem ersten Mal, als er Lena verloren hat, nicht mehr so einsam gefühlt.
Glück ist flüchtig
Rasia hat schon bemerkt, dass mit Vaclav in diesen Tagen etwas anders ist, das Auffälligste ist das Ausbleiben der Freundin »Wie-heißt-sie-noch«. Gut so. Sie wird nicht danach fragen. Vaclav bleibt länger in der Schule, und die Geschichte mit dem gemeinsamen Erledigen von Hausaufgaben in seinem Zimmer, bevor sie von der Arbeit nach Hause kommt, ist vorbei.
Rasia ist natürlich beunruhigt, dass die Freundin mit Vaclav Schluss gemacht und ihn verletzt hat, denn das wäre unzumutbar. Für diesen Fall hätte Rasia gute Lust, das Mädchen mit den Zähnen zu zerreißen und die dünnen Knöchelchen auszuspucken.
Em hat auch bemerkt, dass etwas anders ist. Lena ist glücklicher. Sie lächelt. Sie ist weniger besessen von Hausaufgaben, Schule und Schülermitverwaltung. Lena ist sogar zu spät zur Schule gegangen und länger mit ihren Freundinnen aus gewesen. Em freut sich immer, wenn Lena unter Leuten ist. Immer.
|280| Als Vaclav und Lena früh am Abend jeweils zu Hause ankommen, die Türen zuschlagen, das Essen verweigern, keine Anrufe entgegennehmen, nicht fernsehen, schreiben beide Mütter ihr Verhalten der Achterbahn von Teenager-Hormonen zu. Keine der beiden spürt, dass ihre Kinder an diesem Tag die Erfahrung gemacht haben, dass ein Universum, das gut und hell und aufregend ist, an seinen Rändern plötzlich und irreparabel zerreißen kann.
Lena rennt in ihr Zimmer hinauf und setzt sich auf einen weichen Teppich, die Finger im Flor vergraben, die Beine unter sich verschränkt, und schluchzt mit zusammengebissenen Zähnen und rauem Hals. Sie ist so verzweifelt, dass sie sich nicht vorstellen kann, wie es ihr je wieder bessergehen sollte, wie sie je wieder glücklich als Mensch leben kann, wo das Gute sich einfach so auflösen und verschwinden kann, wo furchtbare Dinge passiert sind, die sich nicht tilgen lassen, wo noch mehr furchtbare Dinge passieren werden und die Erinnerung an Gutes dadurch bestimmt wird, wie das Gute zu Ende geht.
Lena hat geglaubt, Vaclav sei ihr sicher, und er war es nicht.
Vaclav stapft in sein Zimmer. Er knallt die Tür zu und geht auf und ab. Vor und zurück. Versucht zu verstehen und versucht herauszufinden, was er tun soll. Er möchte eine Liste machen, aber er kann die Dinge, die ihm im Kopf herumgehen, nicht aufschreiben. Er beginnt, hält inne und schreibt immer wieder:
Was tun mit Lena?
Was tun mit Lena?
Was tun mit Lena?
|281| Achterbahn der Gefühle
Lena legt sich auf den Boden. Das Gesicht nach unten, den Teppich rau an ihren Wangen, schließt sie halb die Augen und genießt geradezu die Erschöpfung, die sie überkommt, die Feuchtigkeit in den Augen, die Tränen auf ihrem Gesicht. Dann überkommt sie eine innere Zufriedenheit, und sie schläft ein.
Als Lena aufwacht, ist es spät, aber sie ist kein bisschen müde. Sie fühlt sich gut und ist überzeugt, dass alles gut wird oder zumindest besser. Sie sieht eine Öffnung, eine Möglichkeit. Sie wählt Vaclavs Nummer.
Bei Lenas Anruf vergisst Vaclav beinah, wie schlecht er sich gerade noch gefühlt hat. Als sie sich entschuldigt, scheint sein Zorn sich aufzulösen, und er vergisst, wie verletzt er darüber war, dass sie seine Zauberei angegriffen hat.
»Ich hätte nie wütend werden dürfen.«
»Ist okay, das verstehe ich.«
»Ich möchte nie wieder Streit mit dir. Ich möchte nie wieder wütend auf dich werden.«
»Ich auch nicht. Das war schrecklich.«
Lena sieht die ganze Sache mit klarem Blick, sieht eine Chance. Gerade weil sie sich gestritten und wieder versöhnt haben, gibt es Raum, gibt es Veränderung, gibt es Beweglichkeit. Mit einem Mal ist da die Möglichkeit, Dinge zu sagen, die früher ungesagt geblieben sind.
»Ich liebe dich«, sagt sie.
»Ich liebe dich auch«, sagt er und hat das Gefühl, in
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