Vaclav und Lena
wird.
»Ist dir aufgefallen, dass wir irgendwie gar nichts anderes mehr tun, außer uns zu treffen, seit wir, na du weißt schon, seit wir uns wiedergefunden haben?«
|276| »Stimmt«, sagt Lena aufgeregt, ihre Augen leuchten, »das ist doch irre?«
»Ich habe auch nichts mehr für die Schule getan.«
»Ich auch nicht! Total verrückt.« Sie zerbricht sich den Kopf, um ihm wie ein Geschenk ein Beispiel für ihre Nachlässigkeit zu geben. »Ich habe gestern ein Versuchsprotokoll abgegeben, das habe ich in etwa zehn Minuten im Gang aufgeschrieben. Genau vor dem Unterricht.« Ihr Gesicht hellt sich auf, als hätte sie eine Glühbirne im Schädel, und sie hat das Gefühl, als müsste aus ihren Augenwinkeln Licht fallen.
»Ich habe überhaupt nicht mit meiner Mama gesprochen, sie hat nicht den leisesten Schimmer. Sie weiß nicht, dass du zurück bist.«
»Ich habe auch nicht mit meiner Mama gesprochen. Mir war einfach nicht danach.« Ihre Begründung erscheint ihm unvollständig. Hinter dem Geheimhalten ihrer Beziehung steckt mehr, und das wissen sie beide.
»Übrigens habe ich schon eine Woche lang nicht mehr mit meiner Freundin gesprochen«, sagt Vaclav, und schon bei den ersten Worten ahnt er die Wirkung und versucht noch, den Satz wie einen winzigen Marshmallow in eine Tasse heißer Schokolade fallen zu lassen, aber er schlägt ein, genau wie der Felsbrocken, der er ist.
»So. Ich hab nicht gewusst, dass du eine Freundin hast«, sagt sie. Hält sie die Tränen zurück? Die Fäuste? Sie weiß es nicht. Sie weiß nur, sie muss sich beherrschen, muss das jetzt hier durchstehen.
»Ja. Tut mir leid, vermutlich hätte ich es dir sagen sollen.«
»Ja. Vermutlich.« Sie ist aufgebracht. Sie ist ein Komet, der |277| zur Erde kracht. Sie versucht, nicht zu explodieren, das kann er sehen, aber sie wird einschlagen.
»Gibt es noch andere Dinge, die du mir nicht erzählt hast?« Lena kocht. Die Worte überschlagen sich.
»Also, es tut mir leid, dass ich dir das mit der Freundin nicht gesagt habe, es tut mir wirklich leid. Hätte ich gewusst, dass es so wichtig ist, hätte ich es dir erzählt.«
»Gut, es ist also nicht wichtig. Genau wie du gesagt hast, es ist wirklich nicht wichtig, okay? Klar, kein Problem«, erwidert sie, aber sie ist zornig.
»Doch, wahrscheinlich ist es wichtig. Ich will damit sagen, du bist mir wichtig. Du bist mir so wichtig, dass ich mit dem Zaubern aufgehört habe, seit ich dich auf der Bank gesehen habe …«
»Ich kann nicht glauben …«, sagt sie lächelnd und hält inne.
»Was?«
»Ich kann nicht glauben, dass du immer noch Zauberer werden willst.« Sie macht eine Pause. »Ganz ehrlich, werd endlich erwachsen.« Sie sagt es, als wäre seine Idee das Komischste und Dümmste, das ihr je zu Ohren gekommen ist.
Vaclav kann nur den Kopf schütteln.
Lena steht abwartend da.
»Ich kann nicht glauben, dass du das eben wirklich gesagt hast. Du bist noch genau wie damals«, sagt er.
Wie kann ich noch genau wie damals sein, denkt sie, wenn ich nie eine Ahnung hatte, wer ich bin und wer ich war.
»Du denkst nur an dich selbst und an dein verkorkstes Leben. Daran, nach Russland zu gehen und deine Eltern zu finden. An mich denkst du überhaupt nicht.«
|278| »Wie kann ich an dich denken, wenn du mir nichts über dein Leben erzählst? Du erzählst mir nichts von deiner Freundin, du erzählst mir gar nichts. Wie soll ich da eine Ahnung von etwas haben?« Sie hebt ihre Tasche vom Boden auf und geht.
In dem Augenblick, in dem du aufgetaucht bist, habe ich meine Freundin völlig vergessen und alles andere auch, denkt er. Ich liebe dich, ich werde mit dir nach Russland fahren, ich würde mit dir überallhin hinfahren, ich bin die ganze Zeit bei dir gewesen, ich habe die ganze Zeit auf dich gewartet, ich würde alles für dich tun, und so ist das immer schon gewesen. Aber Lena ist schon verschwunden.
Sie hat keine Ahnung, was sie machen oder denken soll, ihr schwirrt der Kopf. Ich liebe ihn, ich hasse ihn, wie konnte er mir das von seiner Freundin nicht erzählen, ich hasse sie, warum hasse ich sie, ich kenne sie ja nicht einmal, ich kann es nicht glauben, dass ich so geklungen habe, als würde ich denken, es wäre dämlich, noch immer zu zaubern, natürlich denke ich das nicht, oder? Oder vielleicht doch. Hat er recht mit dem, was er über mich sagt? Bin ich so gewesen? Wie konnte er nur so was sagen?
Lenas Zorn ist neu für sie und verwirrt sie.
Sie saust die Treppe in die U-Bahn
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