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Vaclav und Lena

Vaclav und Lena

Titel: Vaclav und Lena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haley Tanner
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den einen oder den anderen oder für beide, und sie lassen sich los, sitzen stumm in der U-Bahn wie Betrunkene, die sich berappeln wollen.
    Als sie Vaclavs Haltestelle erreichen, stehen beide wie unter Strom, ihre Muskeln zucken, ihre Schädel können das Übermaß an Begehren nicht mehr eindämmen.
    Nachdem sie die U-Bahn -Station verlassen haben, bemerkt Lena, dass sie auf einem Bürgersteig geht, den sie wiedererkennt, und sich in einer Straße befindet, die sie ebenfalls wiedererkennt. Sie hat das Gefühl, an einem unfreundlichen Ort zu sein, in einem bösen Traum, und ihre Ohren werden heiß wie bei einem Bluttest in einer Praxis. Mal hört sie auch nicht richtig, und dann geht es wieder vorüber; sie hört ein vorbeifahrendes Auto, und im nächsten Augenblick wieder nichts, so als wölbte ihr jemand die Hände über die Ohren.
    Vaclav schaut sie an, und sie ist sich sicher, dass er sieht, wie sie ganz blass um die Nase wird und dass ihr das Blut im Gehirn zu reinem Alkohol wird, leicht und herb, und dass sie gleich in Ohnmacht fällt.
    Doch er schaut sie nur an und lächelt, ein breites, aufrichtiges Grinsen, und sagt: »Ist doch unglaublich, dass du wieder hier bist?« »Ja«, hört Lena sich wie aus weiter Ferne sagen. Sie fragt sich, ob er sie gehört hat und öffnet den Mund und sagt noch einmal: »Ja, unglaublich.« Sie ist erstaunt, dass sie überhaupt sprechen kann, denn ihre Stimme klingt nicht normal. |286| Erstaunt, dass Vaclav meint, es gehe ihr gut, alles bestens, und eine Weile denkt sie, vielleicht ist ja alles in Ordnung mit ihr, wie sie da auf dem vertrauten Bürgersteig einen Fuß vor den anderen setzt. Schritt für Schritt, und wenn sie nicht nach oben in die Bäume schaut, auf die vertrauten Häuser, kann sie weiter Schritte machen, einen Schritt vor den anderen und dann noch einen Schritt vor den anderen. Sie beobachtet, wie die eigenen zwei Füße sich in ihrem seltsamen Rhythmus auf dem Bürgersteig bewegen.
    In dieser Umgebung kommt es Lena vor, als kehrte sie zurück zum Schauplatz ihres Todes. Wie sonderbar, ja paradox ist es für einen Menschen, ein atmendes Lebewesen, hinzuschauen und zu sagen: »Oh ja, ich erinnere mich an diesen Ort. Da bin ich gestorben.«
    Ist es weniger paradox für Lena, die doch in letzter Zeit gespürt hat, dass ein Teil von ihr fehlt, verfault, womöglich tot ist? Ja. Ein bisschen weniger paradox. Vor Kurzem hat sie entdeckt, dass etwas in ihrem Innersten tot war, und hier stößt sie nun unerwartet auf den Tatort. Für sie ist es nicht so unsinnig.
    Vaclav zieht sie zu einer Tür. Lena muss nun hochblicken, auf das Haus, auf denselben Backstein, dieselben Fenster, denselben Briefkasten. Alles ist gleich geblieben, aber jetzt durch ihre Augen betrachtet schärfer als in ihren diffusen Erinnerungen. Das Haus scheint seine Echtheit, seine Festigkeit, seine Wirklichkeit zu demonstrieren, wie es so unschön dasteht, mit seinen naturgetreuen Details, dem Mörtel in den Backsteinfugen, dem Garagentor, den aufgereihten Schuhen vor der Fliegengittertür. Es ist alles noch genauso wie in ihren Erinnerungen.
    Lena ist heute nicht bereit, diesen Teil ihres Gedächtnisses |287| aus der Tiefe zu bergen. Nicht bereit für die Gefühle, die das auslöst. Sie fürchtet sich, in das Haus zu gehen, und das wird ihr in dem Augenblick bewusst, als Vaclav nach dem Schlüssel sucht. Sie schaut auf das Haus wie auf ein Messer, mit dem man sich einmal geschnitten hat und das danach nie wieder dasselbe ist.
    Variationen über das Verlassen des Lebens
    Lena geht mit Vaclav durch die Eingangstür, und alles ist haargenau wie damals. Das Haus ist die Zeit über hier gewesen und war nicht bloß eine verschwommene, düster verrottende Erinnerung, sondern ein realer Ort, und egal, wie viel sie vergessen hat, hier ist es, groß und wuchtig wie eh und je. Vaclavs Eltern sind bescheidene Leute, Einwanderer, ehemalige Kommunisten. Sie sind Flüchtlinge aus einem Land und einer Zeit, wo man nichts besaß, wo man sich mit der Nachbarin um eine nahrhafte Kartoffel stritt. Nicht wirklich, aber irgendwie natürlich schon. Sie waren Bürger eines großen Reiches und haben seinen Untergang erlebt. Sie haben gefühlt, wie ihnen der Teppich unter den Füßen weggezogen wurde. Darum sparen sie selbst in Amerika jeden Cent, kleben zerbrochenes Geschirr zusammen, flicken die Risse in der Couch, und sie würden nie, nie, nie einen guten Teppich wegwerfen.
    |288| Da Vaclav Sohn dieser beiden

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