Vaclav und Lena
Sowjetflüchtlinge ist, jener Alles-Aufbewahrer und Nicht-Konsumenten, ist die Wohnung jetzt noch genauso wie die Wohnung damals, als Lena sie an ihrem letzten Abend verließ, jenem Abend, bevor sie ihr ganzes Leben hier verließ.
Sie nimmt alles mit aufgerissenen Augen wahr, versucht zu atmen und befürchtet, dass sie die Kontrolle verliert, als Vaclav sie packt und küsst, und sie möchte ihn wegstoßen und sagen, nein, nicht hier, aber die Worte kommen nicht aus ihr heraus.
Ihre Knie geben leicht nach, Vaclav versteht das aber als Zuwendung, hält sie noch fester und küsst sie.
Gerüche aus der Vergangenheit drängen sich ihr in die Nase und Bilder in den Kopf. Der Geruch von Lederpflegemittel von der Couch. Der Geruch von Ammoniak aus der Küche. Der Geruch von Wodka aus Olegs Glas, und Rasia, ihr Parfum, ihr Gesicht, ihr Doppel-Doppelkinn, ihr Muttermal.
Die Liebe danach
Lena geht zu der Couch und setzt sich, überzeugt, dass sie gleich ohnmächtig wird. Vaclav kommt ganz nah an sie heran, und sie öffnet den Mund, um etwas zu sagen, doch Vaclav ist schon über ihr, seine Hände auf der Couch zu beiden Seiten ihres Kopfes aufgestützt, die Füße noch fest auf dem Boden. Er ist in einem schrägen Liegestütz und küsst sie heftig, dann lässt |289| er sich auf die Knie fallen, ein Knie jeweils seitlich von ihren Hüften. Er kauert über ihr, küsst sie und küsst sie, und es ist fantastisch, es ist noch nicht heftig genug, und er wird sie nie genug küssen können, und es ist eine Qual.
Er lässt von ihr ab, setzt sich neben sie auf die Couch, atmet kräftig ein wie ein Hochleistungssportler, bevor er sie quer über seinen Schoß zieht und sie küsst und küsst und küsst.
Er steht auf und sagt: »Gehen wir auf mein Zimmer.« Sie steht benommen auf und nimmt seine Hand und erinnert sich daran, dass sie die ganze Zeit gewusst hat, dass das passieren würde und dass sie es gewollt hat.
Lena folgt Vaclav auf sein Zimmer und bleibt genau in der Mitte stehen, und sie registriert alles. Über seinem Bett hängt noch immer das grob befestigte Plakat von David Copperfield. Großrahmige Schwarz-Weiß-Fotos von Vaclav mit Zylinder und T-Shirt , wie er ein Kaninchen aus dem Hut zieht. Sie fragt sich, wer sie aufgenommen hat. Auf seinem Schreibtisch erkennt sie den Zauberer-Almanach, den sie ihm zu seinem achten Geburtstag geschenkt hat, und das Harry-Houdini-Buch.
An der Wand über seinem Schreibtisch hängt eine braune Papiertüte, auf der in Vaclavs bedächtiger Handschrift eine Liste steht:
Schicksalsdinge:
Einmal ein berühmter Zauberer sein
Lena als reizende Assistentin haben
Ausdauer bei diesen Zielen trotz aller möglichen Hindernisse
|290| In der Ecke steht eine fast zwei Meter große goldfarbene Holzkiste.
Der alte Ägyptische Sarkophag des Geheimnisses. Sie kennt ihn, erinnert sich, wie sie als Kinder auf dem Boden saßen und vorhatten, ihn zu bauen, und immer wieder die detaillierten Pläne in dem Zauberer-Almanach studiert haben. Und hier ist er, Vaclav hat ihn tatsächlich gebaut. Sie möchte ihm dazu Fragen stellen, sie möchte alles verlangsamen und nur reden, aber Vaclav beugt sich zu ihr und küsst sie, seine Hände gleiten von ihren Schultern über ihre Arme hinunter zu ihren Hüften.
Jedes Mal, wenn er sie berührt, versucht Lena sich vorzustellen, wie sich das anfühlt. Immer wieder kommt die Frage: Wie fühlt sich das an? Sie bekommt keine Antwort. Irgendwo in ihr lauert Panik, und gleichzeitig feuert sie sich an: Aufpassen, präsent sein, etwas Großes passiert. Doch von wichtiger Stelle kommt keine Reaktion. Ein ausgehängtes Telefon klingelt, keine Reaktion auf die so wichtige Frage. Alle ihre Ichs sind gerade beim Essen.
Vaclav zieht Lena rasch das T-Shirt über den Kopf. Als sie oben nackt dasteht, hat sie das Gefühl, als hätte sie sich gerade selbst überrascht, indem sie bis drei gezählt hat und mit den Füßen zuerst in einen kalten See gesprungen ist. Sie ist verwundert darüber, was ihr Körper vermag, selbst wenn ihr Verstand drei Schritte hinterherhinkt. Oder fünf Schritte. Oder überhaupt nicht bei der Sache ist.
Lena wird schwindlig. Die Gerüche in dem Haus steigen anscheinend aus ihrem eigenen fauligen Innern hoch, es sind peinliche und verwirrende Gerüche. Sie schaut nach unten, als müssten die Dämpfe aus ihrem Bauchnabel hervorquellen.
|291| Lena hat nur noch Sinneseindrücke. Seine Hände sind überall auf ihr, und das ist recht angenehm. Es lässt sie
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