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Vaclav und Lena

Vaclav und Lena

Titel: Vaclav und Lena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haley Tanner
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sie, dass er gleich weinen wird, und es ist schon so lange her, dass sie ihn hat weinen sehen. Sie kann sich nicht einmal mehr erinnern, wann das war. Jedenfalls nicht, seitdem er sich das letzte Mal sein Knie aufgeschürft hat.
    »Das ist mir zu viel«, sagt er jetzt, und Rasia nickt. Lena war ihr auch zu viel.
    Sie hätte es wissen sollen, dass Lenas Rückkehr heimlich sein würde und verlogen. Bei dem Mädchen war alles verstohlen und verlogen. Immer. Es war nicht ihre Schuld, denn was hätte sie denn anderes tun können, bei so viel Schande in ihrem Leben und so viel Traurigkeit. Immerzu hat sie geklaut und Sachen aus Rasias Kühlschrank gehortet, und ihre kleinen Hände waren dauernd dabei, Sachen zu stehlen, Nützliches aus dem Badezimmer, aus Vaclavs Zimmer, aus dem Wäscheschrank, wo immer sie etwas fand.
    Wann immer Rasia Lena nach Hause gebracht und für die Nacht zugedeckt hat, schaute sie in Lenas Rucksack und sah die Hausaufgaben, die Vaclav für sie gemacht hatte, und das gestohlene Toilettenpapier, die Snackreste, eine Zahnpastatube, |298| ein Schulheft, ein Stück Brot. Sie versuchte, dem Mädchen zu helfen, und benutzte den Rucksack als Einkaufshilfe. Sie ließ Toilettenpapier, Zahnpasta, eine neue Zahnbürste, Snacks für die Schule und zusätzliche Sandwiches für sie zurück. Sie hinterließ die Sachen in Lenas Wohnung, wenn das Mädchen eingeschlafen war, und auch bei sich zu Hause, damit Lena sie mitnehmen konnte. Und dennoch schlich Lena herum und klaute. Vielleicht, weil die Liste der benötigten Dinge endlos war oder Schande und Überleben schon in ihr drin steckten. Vielleicht waren Verstohlenheit, Lüge und Täuschung etwas, das sie nie ablegen würde.
    Und doch wundert Rasia sich, denn sie hatte nicht geglaubt, dass Lena stärker als Vaclav sein würde. Und doch war sie es.
    Lena ist wie ein Planet und Vaclav ein winziges Staubkorn. Lena ist ein Stier und Vaclav das Stück Schnur um seinen Nacken. Vaclav ist wie ein wenig Farbe auf einem Sputnik. Rasia sagt sich, dass Lena über Vaclav Macht hat, weil sie ein Mädchen ist und er ein junger Mann. Aber sie hatte schon immer diese Macht über ihn, selbst als sie noch ein mageres kleines Ding war und Vaclav nur Augen für David Copperfield hatte. Lenas Macht über den netten Jungen rührt daher, dass sie als Kind gelernt hat, sich durchzusetzen.
    Vaclav ist ein netter Junge mit wenig Kampfgeist. Lena hat hingegen früh gelernt, sich etwas zu schnappen. Ist das ihre Schuld? Rasia wäre die Erste, die das verneinen würde. Sie hat mit eigenen Augen gesehen, dass es bestimmt nicht die Schuld des kleinen Mädchens war. Bedeutet die Tatsache, dass dem Mädchen nichts vorzuwerfen ist, dass Rasia das Mädchen (jetzt noch stärker, mächtiger, gefährlicher mit Busen, Hüften, Lippen |299| und Augen irisierend wie Öl in einer Regenpfütze) gern in der Nähe ihres Sohnes hätte? Nein.
    Aber sie hat Lena so gern gehabt wie ihr eigenes Kind.
    All diese Gedanken drängen sich plötzlich in Rasias Kopf, und sie hat gerade mit dem Nachdenken begonnen. Und noch immer sitzt ihr Sohn verzweifelt neben ihr, am Boden zerstört, und schluchzt und rotzt auf sein nettes, sauberes T-Shirt .
    Eine russische Mutter und ihr amerikanischer Sohn
    Rasia wird klar, dass sie ihren Sohn nicht mehr einschätzen kann, wenn es um Lena geht.
    »Was läuft zwischen euch beiden?« Das scheint eine gute Frage zu sein, ein gutes, weites Netz. Vaclav schaut sie an, als versuche er zu entscheiden, was er ihr sagen soll.
    »Hör mal, niemand ist böse auf dich, du kriegst keine Schwierigkeiten, es gibt keine Strafe. Hör auf, dir irgendwas zurechtzulegen, hör auf, wie sie zu denken. Sag mir einfach, was sich hier abspielt.«
    Vaclavs Gesichtsausdruck verrät seinen Versuch, strategisch vorzugehen, sein Kriegsschiff in sichere Gewässer zu manövrieren, falls er denn welche findet.
    »Was meinst du mit, ›hör auf, wie sie zu denken‹?« Er weint nicht länger und blickt Rasia wütend an.
    |300| »Strategisch zu denken und zu intrigieren! Zu lügen, zu klauen, zu betrügen und alles heimlich durchzusetzen! Geheimnisse! Vaclav, versteh doch. Sie ist wie ein Eichhörnchen, immer versteckt sie irgendwo ein schmutziges Geheimnis, mal hier unter dem Felsen, mal dort unter dem Baum, unterm Bett, im Kissenbezug! Das ist keine Art!«
    »Wovon redest du, Mama?«
    »Wie lang ist sie schon zurück?«
    »Sie ist nicht zurück, sie ist immer hier gewesen! Sie war die ganze Zeit in Brooklyn, sie

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