Vaclav und Lena
die Gedanken aus dem Kopf fielen. Die Feuerwehr musste anrücken, um die Anlage auseinanderzunehmen und den Fehler zu beheben, der den Alarm immerzu ohne Feuer schrillen ließ. Der Manager sagte, sie sollten nach Hause gehen, der Tag sei ohnehin verloren.
Beim Hereinkommen hört Rasia das, was zu hören sie immer gefürchtet hat. Bettquietschen und gedämpfte Stimmen. Ryan ist zurück. Die Schlampe ist zurück. Diese Worte denkt sie. Sie möchte von dem Mädchen nicht so denken oder das Schimpfwort gebrauchen, aber das sind nun mal ihre Gedanken. Langsam geht sie durch die Wohnung. Es ist nicht ihre Absicht, sich an die beiden heranzuschleichen, und sie fürchtet, die beiden in Verlegenheit zu bringen, oder vielmehr Vaclav. Aber sie will Gewissheit haben, dass das, was sie denkt, sich dort auch wirklich abspielt. Also geht sie auf dem Flur etwas näher heran und noch etwas näher, und ihr mächtiger Körper bewegt sich lautlos.
Draußen vor Vaclavs Zimmer hört sie ein Mädchen reden, aber es ist nicht das tiefe Wiehern der amerikanischen Freundin. Überhaupt nicht. Sie kann einzelne Laute der Sprecherin hören, vertraut und beängstigend, es sind gedämpfte Geräusche wie bei Dieben in der Nacht.
Das ist nicht Ryan.
Rasia stößt die Tür von Vaclavs Zimmer auf, die nur leicht angelehnt ist, weil er sie nicht erwartet hat, und sie sieht ihren |295| Sohn, nackt, auf einem Mädchen mit einer Haarmähne, die so dunkel ist, dass sie nahezu farblos wird, wie das schwarze Dunkel in einer Höhle. Wer ist dieses Mädchen, das Vaclav mit nach Hause gebracht hat? In ihrer Besorgtheit und ihrer Versunkenheit hat Rasia vergessen, sich zu verbergen, und hat die Tür ganz geöffnet. Rasia steht mit offenem Mund und pochendem Herzen da, und Vaclav sieht sie, und ihre Blicke begegnen einander.
Das Mädchen scheint außer Fassung zu sein und versucht, unter Vaclav hervorzukriechen, sie dreht den Kopf, und Rasia sieht (wie in einem Traum, wo jeder ein falsches Gesicht trägt und Türen sich zum Falschen öffnen und der Großvater wieder lebendig ist, doch mit dem Körper eines Pferdes), dass das Mädchen von den Toten zurückgekehrt ist, zurück aus einer anderen Welt, aus einer anderen Zeit.
Rasia ist verärgert und hat zugleich Angst. Lena sollte um ihrer selbst willen weit weg von ihren Erinnerungen sein, die so schrecklich für sie sein müssen. Sie sind hart genug für Rasia, die dick ist und so robust, als wäre sie aus gefrorenen Kartoffeln gemacht. Hier ist wieder das kleine Mädchen, das Rasia wie ihr eigenes geliebt hat, das sie immer noch halten und in den Schlaf wiegen will, dem sie Geschichten erzählen und das sie beschützen will. Hier ist sie, die kleine Yelena, zurück aus dem Weltraum, zurück vom Tod und ihrem Leben danach, zurück aus dem Niemandsland, in das man sie geschickt hatte.
|296| Lena erinnert sich
Als sie Rasias Gesicht sieht, fügt sich alles zusammen. Sie erinnert sich. Sie erinnert sich und kann sich nicht rasch genug anziehen und rennt fort.
Vaclav rennt hinter ihr her, aber sie ist zu schnell. Als er die Tür erreicht, ist sie schon fort.
Ein elternloses Mädchen und ein braver Junge
Vaclav kann nicht sehen, wohin Lena verschwunden ist. Er rennt drei Blocks in die eine Richtung, dann fürchtet er, dass sie die andere Richtung genommen hat, und rennt wieder los. Sie ist weg, er hat sie verloren. Mit Tränen in den Augen rennt er einen Block und dann noch einen und noch einen, bis er nicht mehr kann.
Als er zurückkommt, sitzt Rasia wartend am Küchentisch …
Sie wissen nicht, was sie einander sagen sollen.
Rasia ist überfordert. Womit soll sie beginnen? Darüber reden muss sie, denn Vaclav ist kein Schweiger. Er ist ja Amerikaner; er kann zu nichts schweigen, er muss über alles reden. Rasia kann zu allem schweigen. Dennoch bemüht sie sich, ihm eine amerikanische Mutter zu sein, eine amerikanische Mutter |297| für einen amerikanischen Sohn. Das will und das braucht er. Über das hier zu reden ist allerdings zu viel.
Zuerst stellen sie Augenkontakt her. Sie kann den Blick länger halten als er. Er hält ihn nicht aus, schaut auf den Boden und stößt einen klitzekleinen, für Rasia kaum hörbaren Laut aus. Doch bricht dieser Laut ihr ein bisschen das Herz, denn es ist einer jener Laute, den Babys machen, bevor sie lernen, Worte zu sagen.
Dann sagt er: »Ich glaube, dass ich das nicht überstehe, Mama«, und als er Mama sagt, zittert seine Unterlippe, und an seinem Blick erkennt
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