Vaclav und Lena
glauben, dass er ihren Körper als Naturwunder, als vollkommene Schöpfung betrachtet. In seinen Händen ist Ehrfurcht, und sie ist es, die Ehrfurcht gebietet. Sie fühlt sich nicht wirklich nackt. Ein Luftzug kommt durch die Fenster. Vaclav ist groß. Er ist noch angezogen, und sie ist unbekleidet.
Lena versucht zu denken, aber sie ist wie berauscht, und in ihrer Nase ist ein seltsamer Geruch. Wie ein ihr fehlender, abgefaulter Teil. So als habe sie ihn gefunden oder als stinke er in unmittelbarer Nähe.
Der Ort, den sie heute entdeckt, ist ein wirklicher Ort, an dem ein Teil von ihr all die Jahre verrottet ist, und er zieht an anderen Fäden der Erinnerung und fügt blockierte Synapsen zusammen, und die Dinge kehren zurück zu Lena.
Vaclav führt sie zu seinem Bett. Es folgen weitere Küsse, und sie legen sich hin, und er scheint es nun langsamer anzugehen. Er küsst sie langsam, und seine Hände verweilen länger, aber nicht vorsichtig, nicht sanft. Es fühlt sich an, als fahre sie Achterbahn, nicht das verrückte Auf und Ab, sondern das langsame Tuckern den steilen Anstieg hinauf, wo man Angst kriegt und begreift, man kann nicht entkommen.
Lena versucht immer wieder, sich mit den fernen Teilen ihres Ichs in Verbindung zu setzen, aber sie reagieren nicht. Sie will sich eine wichtige Frage stellen: Möchte ich das hier tun? Sage ich Ja dazu? Ja zu dieser großen Sache hier? Hey, ruft mich sobald wie möglich zurück, ich brauche eine Antwort! Die Mädchen im Fernsehen, in Filmen und in Büchern scheinen immer zu wissen, wann sie bereit sind, das erste Mal Sex zu haben. |292| Lena weiß es nicht. Sie ist nicht einfach unsicher, sondern sie existiert nicht als Person, die etwas will oder etwas nicht will. Als ob der Teil von ihr fehlte, der diese Entscheidung treffen müsste.
Als sie sich ineinander verschlingen und beide nackt sind und seine Erforschungen sie an den äußersten Rand bringen, muss sie sich ausdrücklich selbst versichern, dass es passiert: Achtung, pass auf, es passiert.
Für Vaclav ist es das, von dem sein Körper unerlaubt geträumt hat. Es ist der fehlende Teil, oder er ist der fehlende Teil, und er hat das dazugehörige Puzzle gefunden. Alles fügt sich ineinander, und es ist wundervoll, denkt er, und – ist das nicht unglaublich – trotz aller Dichtung, aller Lieder, aller Malerei und aller Verse, die ihm gewidmet sind, unterschätzt. Das Gefühl ist so einzigartig, dass Vaclav sich in seinem Körper fühlen kann wie nie zuvor. Denken ist unmöglich, es ist unmöglich, aus dem reinen körperlichen Wunder herauszutreten, er ist nur noch Empfindung, und Lena, Lena ist ein anderer Planet, und er ist ein Stern, der durch den kalten schwarzen Himmel rast. Er hält ihren Kopf in seiner Hand, und er liebt sie so sehr, dass er sie mit seinem Körper vor einem Meteoriten schützen würde, und er versucht, sanft zu sein, und fragt, ob alles okay ist.
Nichts ist okay. Sie fühlt etwas, endlich, und es ist schlecht. Sie hat das Gefühl, als hätte sie sich einen Reißverschluss vom Bauchnabel bis zum Hals aufgemacht und innen drin nichts gefunden. So als griffe man nach einer Orange und sähe, dass sie innen hohl ist und verfault und widerlich zwischen den Fingern zerläuft.
|293| Stopp
Lena fasst Vaclav an der Schulter.
»Aufhören«, sagt sie und versucht zu schreien, doch es kommt nur ein schwaches Flüstern heraus, er hört sie nicht.
»Aufhören«, sagt sie lauter, »bitte«, und er hört auf, ohne sie jedoch gehört zu haben.
»Ich muss hier weg, Vaclav. Du musst mich wegbringen. Etwas Furchtbares ist passiert, und ich muss zu einem Arzt oder ins Krankenhaus, und ich muss nach Hause, bitte, bring mich nach Hause«, sie spricht so schnell wie möglich, auch wenn sie ihre eigene Stimme nicht hören kann. Sie versucht, lauter zu schreien, obwohl sie sich nicht sicher ist, dass ein Laut nach außen dringt. Sie spricht hastig weiter, sogar als sie immer weniger Geräusche in die Ohren bekommt, weniger Luft in die Lungen, weniger Licht in die Augen und entsetzlich grauenhafte Dinge ihr in den Kopf schießen.
Vaclav erstarrt, er bewegt sich nicht und bleibt stumm. Sie ist wie festgenagelt unter ihm. Sie hat panische Angst und ist gefangen, und als sie sich dreht, um sich herauszuwinden, sich zu befreien, sieht sie, was er sieht: In der Tür steht Rasia.
|294| Was Rasia hört und sieht
Bei der Arbeit war den ganzen Morgen Feueralarm im Warenlager. Immer wieder Fehlalarm. So laut, dass einem
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