Vaethyr: Die andere Welt
ihrem Daddy den Mund hält.« Sein Mundwinkel zuckte nach oben. »Das Problem ist nur, dass wir die Anderswelt erst verstehen werden, wenn wir dorthin gehen. Genauso wie sämtliche Reiseführer kein Ersatz für den Moment sind, wenn du tatsächlich am Ziel aus dem Flugzeug steigst.«
Rosie hatte damit gerechnet, dass dieses Gespräch zu einem Wettstreit nach dem Motto Ich weiß aber mehr als du ausarten würde, aber es war alles andere als das. Sie fragte Sam: »Weißt du, warum dein Vater die Tore geschlossen hat?«
Er kaute an seiner Unterlippe und ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »Du erwartest wohl eine großartige Enthüllung?«
»Ich hoffe«, erwiderte sie mit dem Hauch eines Lächelns.
»Ihm ist auf der anderen Seite etwas widerfahren, was ihn völlig hat ausflippen lassen. Er will nicht darüber reden. Er trinkt und hat Albträume, glaubt aber, dass keiner es weiß.«
»Könnte deine Mutter nicht zur Aufklärung beitragen? Deine richtige Mutter, meine ich?«
Ein kaltes Glitzern blitzte in seinen Augen auf und erschreckte sie. Sie spürte seine Wut körperlich wie kalte Luft, die sich zwischen sie drängte. »Diesen Weg brauchst du gar nicht einzuschlagen«, sagte er.
»Warum nicht? Ich weigere mich, einen Eiertanz um dich herum aufzuführen, Sam. Warum willst du nicht über sie sprechen?«
»Weil sie tot ist.«
Rosie war bestürzt. »Das tut mir leid. Das hat uns keiner gesagt.«
»Und wenn nicht, dann könnte sie es genauso gut sein.«
»Dann ist sie es also nicht.«
»Wir wissen es nicht! Das ist es ja! Sie verschwand eines Tages, als Lawrence Jon und mich zurück zur Schule brachte. Seitdem haben wir kein Wort mehr von ihr gehört. Ich kann verstehen, dass sie keinen Kontakt zu Dad haben will, aber zu ihren eigenen Söhnen?« Sie sah, wie seine Armmuskeln sich wie Seile anspannten.
»Vielleicht ist sie in die Spirale gegangen.«
»Gut möglich. Das hofft Jon, aber ich meine immer noch, sie hätte einen Weg finden müssen, mit uns in Kontakt zu treten. Wir haben nur Lawrence’ Wort, dass sie verschwunden ist. Nach allem, was wir wissen, könnte er sie auch ermordet und irgendwo im Gebüsch vergraben haben.«
»Aber sie ist weggegangen«, sagte Rosie.
Das blaue Feuer wurde heftiger. »Woher zum Teufel willst du das wissen?«
»Weil ich sie weggehen sah.« Sie beschrieb die Durchsuchungsaktion, die sie, Lucas und Matthew vor Jahren in Stonegate durchgeführt hatten.
Sam saß in sich gekehrt da. Dann stammelte er: »Weißt du, solange ich glaube, dass sie tot ist, kann ich ihr verzeihen. Aber wenn sie lebt und nie …«
»Es tut mir leid«, sagte Rosie hilflos. »Ich wollte dir damit eigentlich helfen, nicht alles schlimmer machen. Nie hätte ich gedacht, dass du das nicht weißt.«
»Nein«, sagte er und schluckte. »Ich habe nie ernsthaft daran geglaubt, dass sie tot ist, nicht in meinem Herzen. Aber ich musste daran glauben, dass sie uns nicht aus freien Stücken ignoriert hat. Ich meine, was haben wir getan …?«
Fast hätte sie ihren Arm ausgestreckt, um seine Hand zu berühren, doch sie hielt sich zurück. »Weißt du denn, warum sie gegangen ist?«
»Endlose Streitereien. Mein Vater wollte in Ecuador bei seiner Mine leben. Mutter bestand darauf, dass sie nach Hause zurückkehrten. Das hat Lawrence ihr nie verziehen … dass sie ihn zwang, sich seiner Verantwortung zu stellen.«
»Das muss fürchterlich gewesen sein für dich und Jon.«
»Sollte ich je herausfinden, dass er was mit Sapphire hatte, bevor Mum wegging, ist sie erledigt.«
»Sie behauptet, das sei nicht der Fall«, warf Rosie rasch ein. »Wie ich dir schon erzählt habe, wird sie aus Lawrence genauso wenig schlau wie alle anderen. Und sie dachte, die Edelsteine wären der Schlüssel zu ihm, aber das sind sie nicht.«
Sam, der seinen Blick gesenkt hatte, sah ihr wieder in die Augen. »Albinit stammt aus Naamon, behauptet mein Vater. Die Mine war eine Schnittstelle, ein kleineres Portal.«
»Das Reich des Feuers. Vulkane, unglaublicher Druck, deshalb fabelhafte Kristalle«, zählte Rosie auf.
»Sobald ich aus diesem Höllenloch hier rauskomme, bringe ich dich dorthin, Süße.«
»Wie ich gehört habe, soll es um diese Jahreszeit etwas warm dort sein.«
Er lächelte dünn. »Mein Vater hatte dort einen Feind namens Barada, der Besitzansprüche auf das Land geltend machte, auf dem sich die Mine befand. Sie kämpften jahrelang darum. Und mir kam der Gedanke, dass mein Vater sich womöglich entschlossen hat, die
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