Vaethyr: Die andere Welt
gleichzeitig war sie eine fühlende Bestie mit einer Gestalt. Er sah, wie sie sich erhob, sah ihre massigen Schultern und den Kopf, der die Sterne auslöschte. Kosmisches Entsetzen überwältigte ihn. Brawth .
Ungerührt beugte sich der Frostdämon nach unten und durchtrennte mit dem Schnitt eines Fingernagels das Seil seines eigenen Haares.
Lucas begann zu fallen.
Er schlug um sich, flog mit ausgestreckten Armen und Beinen und weit geöffnetem schreiendem Mund durch die Dunkelheit.
Dem Abyssus war das gleichgültig. Er schluckte ihn und er fiel und fiel ins Endlose.
~ 13 ~
Über die Schwelle
Er schrie und schrie, aber seine Kehle gab keinen Laut von sich.
Jemand hielt ihn fest. Muster in Schwarz-Weiß wirbelten um ihn.
»Lucas! Verdammt! Beruhige dich. Du bist okay. Ich bin hier, ich halte dich.«
Er hörte die Worte, konnte sie aber nicht verstehen. Das Loch in seiner Brust wurde zu der brennenden Kluft, durch die er stürzte. Die Welt war in eisige Splitter zerbrochen, die mit ihm durch den Abyssus taumelten, und das alles hatte er ausgelöst. »Ich hab sie durchbrochen«, keuchte er. »Der Eisriese kommt.«
»Luc, es ist alles gut. Du bist auf einem schlechten Trip.«
Er sah Jon wie ein Gespenst vor sich stehen, nichts als Knochen und Augen. Lucas zuckte zurück und wehrte die Erscheinung mit ausgestreckten Händen ab. Jons Stimme kam von weit her, murmelte bedeutungslose Worte, während um sie herum Welten zusammenbrachen.
Die Zeit machte einen Sprung. Plötzlich wurde die Stimme klar, sie klang müde und verzweifelt. »Hör zu, Luc, du bist in Sicherheit. Kannst du mich hören? Hör mir zu, Luc, bitte.«
»Wo sind wir?«
Jon seufzte, erleichtert darüber, dass Luc ihm geantwortet hatte. »Dumannios. Warte, versuch dich zu entspannen, damit ich uns zurückbringen kann.«
»Ich kann nicht. Alles ist gebrochen.« Er presste seine Faust gegen das Feuer in seiner Brust.
»Nimm das.« Jon hielt ihm eine Flasche an seine Lippen. Sie war blau und geriffelt, wie die Giftflasche eines Apothekers. Eine sirupartige bittere Flüssigkeit rann durch seine Kehle.
»Warum gibst du mir Hustensaft zu trinken?«, wunderte sich Lucas.
Jon lachte. »Es ist Blackdrop-Tinktur. Ein wunderbares Zeug, das beruhigt dich sofort. Bist du jetzt wieder bei mir?«
»Sie haben das Seil durchtrennt«, sagte Lucas im Glauben, damit alles zu erklären.
Dann schien die Welt stehen zu bleiben und sich pulsierend in wunderbares warmes Licht aufzulösen. Lucas spürte seinen Herzschlag, langsam und schwer wie das Herz der Erde. Sein Wundschmerz wurde gelindert. Das zu sanftem Blau verschwimmende Licht verzauberte ihn.
»Wir sind wieder in den Schattenreichen«, sagte Jon. »Du hast mir wirklich Angst eingejagt. Was hast du gesehen?«
»Ich weiß es nicht. Alles. Es war schrecklich.«
»Erzähl es mir.«
Lucas versuchte es. »Die Ricke erzählte mir die Geschichte, aber ich war real dabei. Der weiße Dämon durchtrennte das Seil – er war zusammen mit den Göttern im Boot. Sie waren vogelköpfig wie Lawrence.«
»Was du da erzählst, ergibt überhaupt keinen Sinn«, sagte Jon weich. Er begann einen Joint zu drehen und raspelte Blackdrop-Harz darüber.
Lucas holte tief Luft. Er hatte inzwischen zwar Abstand zu seinem Schrecken, doch er war immer noch da, als regloser Schatten am Rande seines Gesichtsfelds. »Ich bin in den Abyssus gestürzt. Deshalb habe ich geschrien.« Er rieb sich das Brustbein und zuckte zusammen, als er den Riss in seinem T-Shirt und das rohe Fleisch darunter entdeckte.
Jon blickte ihn stirnrunzelnd an. »Mein Gott, Luc, was ist das?«
Lucas schlug seinen Mantel auf und schob das T-Shirt hoch. Auf seinem Brustbein zeichnete sich ein roter wunder Kreis ab, fünf Zentimeter im Durchmesser. Seinen wirren Sinnen kam es wie ein Bombenkrater vor. »Ich weiß es nicht. Es tut teuflisch weh.«
»Es ist aber nur eine Hautabschürfung. Wo hast du dir das eingefangen?«
»Malikala schoss auf mich.« Er lachte. »Nein. Das ist verrückt. Ich muss wohl gestürzt sein. Ich – ich habe die Rebellion von Jeleel gegen Malikala gesehen, als wäre ich tatsächlich dabei …«
Jon sah ihn forschend an. »Du bist wirklich durchgedrungen«, sagte er mit sanfter Ehrfurcht. »Es hat funktioniert. Wenn wir das nächste Mal die Dosis richtig hinbekommen –«
»Nein, nein.« Lucas spürte die aufsteigende Panik. »Nie mehr.«
»Ich meine doch nicht jetzt.« Jon zündete den Joint an, nahm einen Zug und bot ihn Lucas
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