Vaethyr: Die andere Welt
an. »Lass uns zur Ruhe kommen und darüber reden.«
Lucas, der nicht leicht aus der Fassung geriet, wurde jetzt richtig wütend. Ob es die Erschöpfung nach dem Drogenrausch oder Angst war, hätte er nicht sagen können. Er schlug den Joint aus Jons Hand. »Hast du vor, mich umzubringen, verdammt?«
»Was?« Jon zuckte erstaunt zurück.
»Komm mir bloß nicht mehr mit irgendwas. Ich hatte genug davon.« Er zeigte aufgeregt auf die Felsen von Freias Krone. »Dein Vater hat recht. Dort drinnen ist etwas Schreckliches. Wenn wir das stören, könnte das für uns alle den Tod bedeuten – das Ende der Welt!«
Alarmiert hob Jon beide Hände, als wollte er ein scheuendes Pferd beschwichtigen. »Beruhige dich, Luc.«
»Habe ich mich noch nicht klar ausgedrückt? Lawrence weiß, was er tut! Hinter den Toren lauert eine entsetzliche Macht. Ich weiß nicht, was das verdammt noch mal ist, aber die Tore haben wie ein Damm dafür gesorgt, dass es ruhig blieb. Wenn er sie öffnet, wird es aufwachen und wie eine Flut herausbrechen. Er hatte recht, sie zu verriegeln. Er hatte keine andere Wahl. Bist du jetzt zufrieden?«
Jon starrte ihn an. Während beide schwiegen, schaute Lucas nach oben und sah die Tore in ihrer realen Gestalt: ein großer roher Monolith. Und all seine Wut und all seine Gefühle brachen aus ihm hervor wie Feuer und schlugen auf den Stein ein. Er war machtlos dagegen. Der Boden erzitterte. Er sah eine Flamme wie entzündetes Benzin über die Oberfläche züngeln und in ihrem Gefolge Runen aufblitzen. Er spürte, wie die schweren Felssegmente sich aneinanderrieben und sich zwei oder vier Zentimeter weit verschoben, bis sie ruckelnd stillstanden. Und er entdeckte einen schmalen dunklen Spalt in der Felsoberfläche, der zuvor noch nicht da gewesen war.
Mit angehaltenem Atem versuchte Lucas, seine eben gemachte Erfahrung zu begreifen. Halluzination. Er schloss die Augen, und als er sie wieder öffnete, sah die Felswand wieder ganz normal aus. Nicht ein Spalt, sondern Hunderte überzogen die glatte Wand.
Sie befanden sich in der Oberflächenwelt. Eine farblose Dämmerung über dem Morgentau.
Jon hatte nichts bemerkt, seine ganze Aufmerksamkeit war auf Lucas gerichtet gewesen. »Ich habe nicht versucht, dich zu vergiften«, sagte Jon und streckte seine Hand aus, um Lucs Arm zu umfassen. »Das weißt du doch, oder?«
»Ja. Ich bin völlig aufgewühlt.«
»Das sehe ich«, begann Jon, aber seine Stimme erstarb. Aus dem Nichts tauchte eine hoch aufragende, wütende Gestalt auf, deren Übermantel wie Krähenflügel schlug.
»Was macht ihr da? Was zum Teufel habt ihr getan? «
Lawrence.
Weil sie nur mit sich beschäftigt waren, hatten sie nicht bemerkt, wie ihr Vater den Hang hochgestürmt war. Der Schock weckte von Neuem Lucas’ Schrecken, scheuchte ihn auf wie einen Vogelschwarm. Lawrence packte sie beide am Schlafittchen, wie Jungs, die man beim Stehlen erwischt hat, und hob sie dabei fast in die Luft. Dann warf er sie kraftvoll zu Boden.
Lucas’ Herz, das noch immer unter Drogen stand, weigerte sich, mit seiner Panik Schritt zu halten. Er befand sich wieder im Abyssus, ertrank in seinen Albträumen. »Wer wagt es, sich an den Toren zu vergreifen?«, wütete Lawrence über ihm. »Nach allem, was ich gesagt habe, nach all meinen Warnungen. Wie konntet ihr es wagen ?«
»Wir haben nichts getan«, meldete sich Jons Stimme schrill vor Schreck. »Dad, ehrlich – wir haben uns nur unterhalten.«
»Lüg mich nicht an! Was habt ihr hier gemacht?«
Lucas rappelte sich auf und sah, wie Lawrence Jon an seinen Jackenaufschlägen nach oben zog und dabei auch an seinem indischen Hemd zerrte. Jon warf mit großen flehenden Augen einen Seitenblick auf Lucas. »Dad, wir haben doch nur –«
Lawrence’ Gesicht war versteinert und eisig und wütend und herzlos wie das des Frostdämons oder des Riesen im Abyssus. »Was ist los mit dir? Bist du betrunken oder hast du Drogen genommen?« Er schüttelte Jon. »Du stinkst nach Rauch. Du hältst es wohl für ein Spiel, hierherzukommen und deine albernen Zweigsymbole zu flechten? Hast du tatsächlich geglaubt, du kämest durch? Wie kannst du es wagen, wie kannst du nur daran denken ? Du wirst mir jetzt alles erzählen, und bei allen Göttern, ich verspreche dir, es wird dir leidtun, mir nicht gehorcht und diesen geheiligten Ort auch nur betreten zu haben.« Lawrence’ Kopf drehte sich langsam um und er nahm Lucas ins Visier. »Das gilt für euch beide.«
Einen so
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