Vaethyr: Die andere Welt
»Er ist schon seit Jahren besessen von ihr. Wusstest du das nicht?«
»Nein. Irgendwann werde ich ein Buch mit dem Titel ›Was ich nicht wusste, weil es keiner für wichtig hielt, es mir zu sagen‹ schreiben. Ich möchte nicht, dass sie wieder leiden muss. Ständig sucht sie sich die falschen Typen aus. Was keine Beleidigung sein soll.«
»Freut mich.«
»Alastair ist jedenfalls weg. Es ist wieder Ruhe. Ich mag es nicht, wenn du in irgendwelchen Drogenhöhlen rumhängst, Jon. Bitte komm mit zurück.«
Jon wurde nachgiebig. »Ja, okay. Weil du es bist.« Dann fügte er hinzu: »Alle verstehen Sam falsch. Er würde wie ein Hund kämpfen, um einen zu beschützen. Das Problem ist nur, dass er nicht weiß, wann er aufhören muss.«
»Das finde ich allerdings nicht sehr beruhigend«, erwiderte Lucas. »Hör zu, die Tore …«
»Ich weiß, ich muss damit aufhören und was aus meinem Leben machen. Gemeinnützige Arbeit?«, fiel Jon ihm süffisant ins Wort. »Vielleicht als Betreuer von Drogenabhängigen? Vergiss die Tore. Es gibt keine Spirale. Wir werden alle bald schon durch und durch Menschen sein und uns nicht einmal mehr daran erinnern, dass wir Elfenwesen waren. Und mein Vater wird an seinen Qualen ersticken, aber das ist ganz okay so, weil weltlich Gesinnte wie dein Bruder Matthew dann glücklich und zufrieden sein werden.«
Lucas wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er biss sich auf die Lippe. Er musste es ihm sagen. »Nein, Jon, hör zu … Damals auf Freias Krone, da ist etwas passiert …«
Hinter ihnen kam ein Wagen angesaust und übertönte seine Stimme. Als er sie eingeholt hatte, hielt er an und das Fenster glitt nach unten. »Lucas!«, rief der Fahrer.
Es war Alastair.
»Oh – äh – hi«, sagte Luc erschrocken. »Wohin bist du unterwegs?«
»Ich bin auf dem Weg nach Hause. Wollt ihr mitfahren?«
Jon und Lucas sahen einander an. »Nein danke, wir wollen lieber zu Fuß gehen.«
»Nun kommt schon. Ihr braucht mindestens zwanzig Minuten und es fängt an zu regnen. Springt rein.«
Er sah aus wie immer. Ein wenig rot im Gesicht und verschwitzt, aber nicht schlimmer, als wenn er vom Rugbyspiel kam. »Also gut«, sagte Lucas, aber Jon zögerte.
»Nein danke. Ich brauche keine Zugabe.«
»Rosie und ich kommen gut zurecht«, sagte Alastair mit Nachdruck. »Keine bösen Worte mehr, ich verspreche es. Nun kommt schon, steigt ein. Sie will euch zu Hause haben.« Er beugte sich herüber, um die Beifahrertür zu öffnen. »Spring du vorne rein, Lucas. Dir macht es doch nichts, auf dem Rücksitz zu sitzen, Jon, oder?«
»Ist egal«, sagte Jon und stieg ein.
Lucas setzte sich auf den weichen Sitz und legte den Gurt um. Die Zentralverriegelung schloss sich mit einem Klick. Plötzlich bekam er Platzangst. Alastair fuhr mit einem gespenstischen Lächeln auf den Lippen los und summte vor sich hin, als er die Hauptstraße ansteuerte. Dort angekommen fuhr er einfach weiter, anstatt nach links zum Haus abzubiegen.
»Wohin fahren wir?«, fragte Lucas. Keine Antwort. »Hast du Rosie heute schon gesehen? Sie war in Sorge.«
»Ich habe mit ihr gesprochen, ja.«
»Das ist wirklich eine seltsame Situation. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.«
»Du brauchst nichts zu sagen, Luc. Es wird sich alles wieder einpendeln, keine Sorge.«
Alastair bog von der Hauptstraße in eine lange Serpentinenstraße ein, die letztendlich nach Cloudcroft führte. Draußen flitzte die Dunkelheit vorbei. Der Wangen schlingerte und hob in den steilen Kurven fast ab.
»Wohin fahren wir?«, erkundigte Lucas sich erneut, wobei er immer nervöser wurde.
»Rosie ist in Oakholme«, sagte Alastair in demselben unbeschwerten, leicht irren Tonfall. »Sie wartet dort auf euch.«
»Oh«, sagte Lucas verdutzt. »Das habe ich nicht gewusst. Könntest du ein bisschen langsamer fahren?«
»Ihr seid mir ein paar Weicheier.« Er drosselte das Tempo minimal und hielt das Lenkrad mit seinen fleischigen Händen fest umklammert.
»Warum ist sie denn in Oakholme?«, fragte Luc und wollte, nachdem er den saueren Geruch in Alastairs Atem wahrgenommen hatte, wissen: »Wie viel hast du getrunken?«
»Nicht genug.« Der Wagen sauste durch einen Tunnel aus Bäumen, die gespenstisch im Licht der Scheinwerfer auftauchten, und beschleunigte. Nach einer Schweigepause begann Alastair: »Ich möchte ihr erklären, was sie mir angetan hat. Aber ich kann es nicht in Worte fassen. Ich möchte ihr sagen: ›Wenn ich dir nur für eine Sekunde den
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