Vaethyr: Die andere Welt
Teppichfliesen unter ihren Füßen. »Ich habe gestern mit Alastair Schluss gemacht … weil ich was mit Sam angefangen habe.«
»Oh«, war alles, was Jessica sagte. Auberon nahm es kommentarlos hin.
»Und du wolltest alles wieder in Ordnung bringen«, sagte Matthew und zeigte anklagend mit dem Finger auf sie. »Warum hast du es nicht getan?«
»Gibst du etwa mir die Schuld daran?«, stöhnte Rosie.
»Nein, ich will damit nur andeuten, dass Alastair unvorsichtig gefahren ist, weil er ein wenig aufgewühlt war.«
»Ich bat ihn, nach Hause zu kommen! Sag du mir, warum er es nicht getan hat.«
»Keiner hat Schuld«, sagte Auberon mit Nachdruck. »Es war ein Unfall. Lasst uns doch erst mal die Fakten abwarten.«
Sie warteten – die Zeit verging schleppend. Rosie musste an Faith denken, die mit Heather allein in Oakholme war. Am früheren Abend hatte sie Sam angerufen und für den nächsten Tag, den Sonntag, mit schlechtem Gewissen ein Treffen im Green Man vereinbart. Das konnte jetzt nicht mehr stattfinden. Trost suchend drückte sie ihr Kristallherz, das sie am Morgen umgelegt hatte, mit ihren Fingerspitzen.
Phyllida traf ein und lief auf Jessica zu, um sie in die Arme zu schließen. Ihre Anwesenheit entspannte die Atmosphäre, da sie sich nicht davor scheute, vom Krankenhauspersonal Antworten einzufordern. Endlich kam eine Schwester und sagte, sie könnten jetzt zu Lucas. Sie war sehr ernst und darauf bedacht, keine falschen Hoffnungen zu erwecken.
Auf der Station war viel Betrieb, eine zischende Glastür führte in einen weißen Raum, in dem ein Bett stand. Darin lag Lucas mit geschlossenen Augen, sein Leben hing an Schläuchen und Tropfinfusionen. Rosie und Jessica hielten sich, dicht beieinander, die Hände so fest verschränkt, dass es wehtat.
Lucas hatte einen Kopfverband, geschwollene Schnitte und Blutergüsse um die Augen, ansonsten war seine Haut so weiß wie das Bett, auf dem er lag. Er wirkte, als sei er geschrumpft, sah ausgezehrt aus unter den Laken, der Mund hing schlaff um einen Plastikschlauch und seine Rippen hoben im Takt mit dem schnaubenden Beatmungsgerät, das seinen Lungen die Arbeit abnahm. Maschinen piepten und klickten.
Ein grauhaariger Oberarzt kam und sprach von der Kopfverletzung. Koma. Stammhirntod. Er erklärte ihnen, dass Lucas nur durch die Maschinen am Leben gehalten wurde. Je länger es dauerte, bis er Anzeichen einer Genesung zeige, umso geringer war die Chance. Sie müssten sich damit befassen, eine Entscheidung über das Abschalten der lebenserhaltenden Maßnahmen zu treffen.
»Lucas?«, flüsterte Rosie und schob ihre Finger in seine Handfläche und drückte diese. Keine Reaktion. Er war nicht da.
Als der Arzt gegangen war, kümmerte Phyllida sich um Stühle. Auberon setzte sich neben Lucas, den Kopf auf eine Hand gestützt; Jessica neben ihm starrte unverwandt auf das Gesicht ihres Sohnes. Mit seinen zurückgekämmten Haaren sah er aus wie Lawrence, ohne dessen harte adlerhafte Züge, sondern wie eine junge, süße knabenhafte Version von ihm. Matthew blieb unruhig stehen.
»Das kann doch nicht sein«, flüsterte Rosie ihrer Tante zu. »Ich dachte, Elfenwesen seien widerstandsfähiger als Menschen.«
»Sind wir auch«, erwiderte Phyll. »Wäre er kein Elfenwesen, wäre er sicherlich sofort gestorben. Aber unsere Körper sind dennoch nur aus Fleisch und Blut. Im menschlichen Sinne können wir verletzt oder getötet werden. Das weißt du doch.«
»Das bringt nichts«, sagte Matthew. »Ich kann hier nicht bleiben.«
Als er sich zum Gehen wandte, glitten die Glastüren auf und Lawrence und Sapphire, beeindruckende Gestalten in ihren dunklen Mänteln, traten ein. Sapphire schob Jon in einem Rollstuhl vor sich her. Es war ein gespenstischer Schock, zu sehen, dass sie auf diese Weise wieder Besitz von ihm ergriffen hatte. Rosie hielt ängstlich Ausschau nach Sam, aber er war nicht da.
Die beiden Familien starrten einander an.
»Dürfen wir ihn sehen?«, fragte Lawrence. Er sah genauso verhärmt aus wie Auberon.
Eine Pause, dann antwortete Auberon: »Ja natürlich.«
»Wo ist Sam?«, fragte Matthew spitzzüngig.
»Er versucht einen Parkplatz zu finden«, sagte Sapphire. »Der Verkehr ist ein Albtraum, selbst zu dieser späten Stunde. Das ist ein derart entsetzlicher Schock …«
»Wir sind zu viele hier«, sagte Phyllida. »Komm, lass uns einen Kaffee trinken. Jess?«
»Ich kann nicht«, sagte Rosies Mutter matt, ließ sich dann aber von Phyll, Matthew und Auberon
Weitere Kostenlose Bücher