Vaethyr: Die andere Welt
einem Türkis, das sich im Zenit zu Mitternachtsblau vertiefte, die Sonne ein aprikosenfarbenes Dotter am Horizont. Die Tagessterne glitzerten wie Schneeverwehungen. Rosie bildete sich ein, ihr Lied hören zu können, das atmosphärische Rauschen der Schöpfung.
Vor ihnen führte der Pfad sie über die Kuppe des Berges und auf der anderen dann einen sanften Abhang hinunter. Dort machte er eine abrupte Kehrtwende und endete im Schnörkel einer riesigen Spirale, die ins Gras gefurcht war. Sie befanden sich auf einer Felskuppe.
Ehrfürchtig und bestürzt schauten Rosie und Sam über den Rand. Der Höhenunterschied war atemberaubend. In schwindelerregender Tiefe lag ein Tal, das in der Ferne zu einer zerklüfteten Felswand hin anstieg, welcher der blaue Dunst ihre Schroffheit nahm. Tief unten glitzerte ein Fluss. Die Landschaft war gewaltig, als hätte ein visionärer Künstler sie gemalt – aber es führte kein Weg dorthin. Panik loderte wie eine Flamme in Rosie auf. Sollte Lucas’ Essenz sich dort draußen verloren haben, wie sollten sie jemals hoffen, ihn zu finden?
»Da geht’s nicht weiter«, sagte Sam. »Folgt dem Pfad«, hat meine Mutter gesagt, aber der verläuft im Sande.«
Rosie starrte die Spirale an und schob sich dabei ihre Haare hinter die Ohren. »Es ist eine Landkarte«, sagte sie. Sie betrachteten sie gemeinsam. »Wir sind den Weg noch nicht ganz zu Ende gegangen. Es mag sinnlos sein, aber lass es uns versuchen.«
Sie setzten ihren Fuß auf die Biegung und folgte dieser ins Herz der Spirale. Sam folgte ihr, wobei er mit einer Hand ihre Schulter umklammert hielt. »Ja, das ist ziemlich albern, wie ein Tanz um den Maibaum.«
Der Blick auf die Spur zeigte ihr, dass diese sich einmal um sich selbst drehte und dann spiralenförmig wieder hinausführte. Nach der äußersten Biegung verlief die Spur gerade und führte direkt auf den Klippenrand zu. Dort wurde sie Zeugin einer äußerst verstörenden Wahrnehmungsveränderung. Die Spur wurde breiter, während ihre Umgebung sich hinter einem dünnen Nebelschleier zurückzuziehen schien. Sams Finger auf ihrer Schulter packten fester zu. »Hey, sieh dir das an.«
Von der Felskuppe schien sich hoch über dem Talboden ein natürlicher Felsgrat zu erstrecken. Und der Pfad führte sie darauf zu. »Der Damm?«, staunte Rosie. »Wie ist der plötzlich aufgetaucht?«
»Der war wohl immer da«, erwiderte Sam. »Vermutlich konnten wir ihn erst sehen, als wir uns ihm auf dem richtigen Weg näherten. Es ist alles eine Frage der Wahrnehmung.«
Das Gras, auf dem sie bisher gelaufen waren, wurde von Schiefer und dann von dem Material des Grats abgelöst, einem rauchigen, halb transparenten Quarzgestein. Sie verließen den sicheren Boden und folgten dem schmalen Pfad, der vor ihnen anstieg und zu dessen beiden Seiten der Abgrund gähnte.
»Ah«, sagte Sam, als sie ein paar Schritte gegangen waren. »Genau, das ist es, nicht wahr? Hätte ich mir denken können.«
»Alles okay mit dir?« Rosie drehte sich zu ihm um. Noch nie hatte sie sein Gesicht so erstarrt gesehen. »Was ist, Sam, hast du Höhenangst?«
»Nein! Na ja, schon. So was Blödes.« Er schaute nach links, schwankte und schloss heftig schluckend die Augen. »Oh Scheiße.«
Er wirkte wie gelähmt. Rosie meinte besorgt: »Du kannst hier auf mich warten, Sam. Ich schaffe das schon allein.«
»Kommt nicht infrage.« Er öffnete die Augen, sie waren blau und wild entschlossen. »Mir geht es gut.«
»Du musst jetzt nicht den Macho spielen, weißt du«, sagte sie zärtlich. »Keiner ist perfekt.«
Er presste die Zähne aufeinander. »Sei still und geh weiter.«
An manchen Stellen sorgten Felsformationen für ein natürliches Geländer, an dem sie sich festhalten konnten. Doch es gab auch Stellen, wo der Grat ausgesetzt und der Pfad unheimlich schmal war. Sie versuchte, nicht an die Höhe zu denken oder die Möglichkeit, abzustürzen. Unter ihnen lag Elysium mit schimmernden Weiden, Obstgärten voller Früchte und Haselnüsse und Vogelsang – aber sie befanden sich nun weit über diesem Reich und gehörten diesem nicht mehr an. Es war wie in ihren Träumen von einer monumentalen, jedoch ätherischen Landschaft und einer fadendünnen Brücke, die viel zu hoch war, um real zu sein. Der Schmerz, den sie zunehmend in ihren Beinen spürte, war jedoch lebhaft genug.
Es schien gute zwei Stunden zu dauern, bis der Damm sie ans andere Talende brachte, wo er an der Steilwand entlang durch eine Schlucht führte. Sie
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