Vaethyr: Die andere Welt
die Tore zu öffnen, bei Gott, dann wünschst du dir, du wärest nie geboren.«
»Ich habe nicht versucht die Tore zu öffnen«, rechtfertigte sich Jon und sah dabei aus wie ein triefnasser Engel. Sam sah Kratzer auf seinen Händen und seinem Gesicht. Auf dem Boden lag ein aus dornigen Zweigen zu einer Rune geflochtener Kranz.
»Nicht? Dann lass das Beweismaterial nicht herumliegen.«
Er kickte das Ding weg, sodass es im Farn landete und auseinanderfiel. »Hey!«, rief Jon und versuchte es zurückzuholen. Sam hatte keine Mühe, ihn mit einer Hand davon abzuhalten.
»Du gehst jetzt rein, bevor du dir hier den Tod holst.«
»Du verstehst das nicht«, sagte Jon wütend. »Ich habe nicht versucht hindurchzukommen. Ich wollte nur …«
»Was?«
»Mutter sehen. Sehen, wo sie ist.«
Jetzt legte Sam eine Hand an Jons Kehle und drückte ihn zurück an den Fels. »Du verdammter Idiot. Du glaubst, sie ist hier durchgegangen? Wie denn und warum? Wieso gerade hier?« Er ließ los und schubste Jon weg. Die Berührung sollte Jon nur aufrütteln, nicht verletzen. Sam entfernte sich ein paar Schritt weit, um sich zu beruhigen, dann kam er zurück und sagte: » Und … hast du Erfolg dabei gehabt?«
»Nein.«
»Nein. Weil sie tot ist.«
»Sie ist nicht tot!«, rief Jon. »Wie kannst du nur so etwas sagen?«
»Sie muss tot sein«, sagte Sam ruhig. »Niemals hätte sie uns verlassen, ohne in all den Jahren etwas von sich hören zu lassen, es sei denn, sie ist in der Zwischenzeit gestorben. Selbst wenn sie in der Spirale wäre, hätte sie uns nicht einfach vergessen. Das willst du einfach nicht wahrhaben.«
»O doch, sie hätte uns vergessen«, antwortete Jon giftig. »Wir sind ihr nämlich völlig egal.«
Er zuckte zusammen, als sein Bruder erneut auf ihn losging, aber Sam ließ seine Hand sinken und seine Wut wie den Schneeregen in Nichts zerrinnen. Als er sich abwandte und ging, rief Jon ihm mit gequält klingender Stimme hinterher. »Du bist derjenige, der es nicht wahrhaben will: Sie hat sich nie um uns gekümmert.«
~ 5 ~
Nicht ganz Narnia
Jon. Jon . Rosie schrieb seinen Namen immer und immer wieder in schnörkeliger Kugelschreiberschrift. Jon & Rosie, Rosie & Jon .
Erste Liebe, unerwiderte Liebe – das war eine heftige Droge. Hätte sie gewusst, dass über dem Rest ihrer Schulzeit der Schatten der Enttäuschung läge, hätte ihr dies auf der Stelle das Herz gebrochen; aber diesen Gedanken ließ sie nicht zu. Denn jeder Tag brachte neue Hoffnung, ihn zu sehen oder auch noch im kleinsten Blick oder Lächeln, die sie von ihm erhaschte, Bände zu lesen.
Jon war freundlich zu ihr, aber immer zerstreut, als hätte er ständig Wichtigeres zu tun. Er ließ sie nicht näher an sich heran. Rosie redete sich ein, dass er einen großen geheimen Schmerz verbarg. Wenn er sich ihr damit anvertrauen könnte, würde alles Trennende einstürzen und sie würden sich Händchen haltend ihre Geheimnisse zuflüstern.
»Was meinst du, Mel, ist er schwul?« Sams boshafte Enthüllung ließ ihr keine Ruhe.
Mel war so verdutzt, dass sie nicht gleich antworten konnte. »Was? Auf keinen Fall.«
»Und woher willst du das wissen?«
»Weil jemand nicht schwul ist, nur weil er lange Haare hat und ein Angeber ist, Rosie«, sagte Mel im Brustton der Überzeugung. »Wir müssen nur dafür sorgen, dass er dich bemerkt.«
Mel hatte leicht reden. Mit ihrem sonnenblonden Haar war sie eine strahlende Erscheinung und konnte wählen und verwerfen wie eine Prinzessin. Rosie hingegen fand sich so unsichtbar wie der Erdgeist, der sie war. Wenn sie an Jon dachte, sah sie ihn immer gedankenverloren und mit wehendem Haar, das ihm auf die knochigen Tänzerschultern fiel, durch die Schulkorridore von ihr wegeilen. Er hatte inzwischen eine Clique von Gefolgsleuten um sich versammelt. Rosie versuchte sich dieser Gruppe anzuschließen, aber sie war immer nur am Rande dabei und fand nicht den Zugang zum inneren Kreis. Und das verletzte ihren Stolz. Sie kam sich idiotisch vor, wie ein Fan, der einem Filmstar auflauert, doch sie konnte nicht aufhören von ihm zu träumen.
Sam indessen musste nur noch ein Jahr auf der Schule herumbringen. Er hing mit einer wilden Horde herum, und obwohl Rosie versuchte ihm aus dem Weg zu gehen, musste sie jedes Mal, wenn sie sich umdrehte, feststellen, dass er sie aus der Ferne beobachtete. Er war wie ein Panther auf der Pirsch, leise und raubtierhaft, eine schwarz-weiße Schnitzerei aus Eis.
Er hatte sich eine Freundin
Weitere Kostenlose Bücher