Vaethyr: Die andere Welt
ihre Schläge waren weich wie Seide. Auch schienen die Mädchen viel weniger Substanz zu haben, waren kleiner und blasser. In Trance, kontrolliert von einem tieferen Selbst, pflanzte Rosie ihre Füße in den Boden und stand auf.
Was sahen ihre Angreiferinnen? Etwas Durchsichtiges, stellte sie sich vor, wild und wölfisch mit Zweigen statt Haaren, das sich wie ein Gespenst zwischen ihnen erhob. Sie erstarrten. Rosie hörte, wie eins der Mädchen sagte: »O Mann.«
Der Pitbull holte zu einem letzten Schlag aus, in dem genug Kraft steckte, sie wieder auf Hände und Knie zu zwingen. Dann stürmten die Angreiferinnen in ihren gummibesohlten Stiefeln davon, der Pitbull schrie noch über die Schulter: »Du lässt die Finger von meinem Kerl, du verdammter Freak!«
Als sie sich hochrappelte, wobei der verspätet einsetzende Schock sie fast noch einmal zu Boden warf, flüsterte eine sanftere Stimme über ihr: »Alles in Ordnung mit dir, Mädchen?«
Sie blickte hoch und sah das Blättergesicht der Grünen Frau hoch oben in den Ästen der Alten Eiche. Das dürfte sie gemeint haben, als sie vom Blut an ihrem Baum sprach – eine Warnung, dass sie keine Gewalt in der Nähe ihrer geliebten Eiche duldete. »Tut mir leid«, brachte Rosie mit erstickter Stimme heraus.
»Du gehst jetzt nach Hause«, sagte die Dryade freundlich. Sie schien nicht verärgert zu sein. »Geh schon. Ich kann meinen Baum nicht verlassen, aber ich passe auf, dass du gut nach Hause kommst.«
Ihren Eltern erzählte Rosie, sie sei in ein Dornengestrüpp gefallen. Sie schienen es ihr abzunehmen. Am nächsten Tag marschierte sie hinauf nach Stonegate Manor und präsentierte sich Sam, der ihr die Tür aufmachte, mit einem blauen Auge und aufgerissenen Händen. Ungläubig und mit offenem Mund hörte er sich an, was sie ihm in schroffem Ton erzählte.
»Pfeif bloß deine Bodyguard-Tusse zurück«, schloss sie ihren Bericht wutschäumend und marschierte davon, ohne ihm die Chance zu einer Antwort zu geben.
»Rosie!«, rief er ihr hinterher, aber sie ging einfach weiter. Ausnahmsweise fühlte sie sich stark und furchtlos und es war ein gutes Gefühl.
Als sie in dieser Nacht im Bett lag, musste sie an die Grüne Frau und Jon denken und daran, was es bedeutete, als Elfenwesen in der Menschenwelt gefangen zu sein. Ein goldener Sommermond schimmerte durch die Vorhänge. Und wenn nun sie und ihre Brüder – und auch Jon und Sam – niemals die Spirale betreten und an den Erfahrungen teilnehmen konnten, die ihre Eltern gemacht hatten?«
Eine Erinnerung kam hoch: Sie war etwa sieben Jahre alt und saß auf Brewsters breitem Rücken, der sich sanft wie ein Lamm von Comyn auf der Koppel herumführen ließ. Als Kinder hatten sie die Farm oft besucht. Sie erinnerte sich, dass ihr Vater und ihre Brüder unter sonnenbeschienenen Bäumen saßen und zusahen. Und während sie ihre Runden drehten, sagte ihr Onkel: »An manchen Leuten werden dir gewisse Dinge auffallen, Rosie. Erwachsene etwa, die nicht älter zu werden scheinen. Bei uns gibt es keine gemütlichen grauhaarigen Großmütter, nein, unsere Großeltern sehen so frisch aus wie unsere Eltern, bis sie einfach verschwinden. Rätselhaft, oder?«
Rosie war verstört gewesen. Waren die Erwachsenen, an die sie sich noch schwach erinnern konnte und die sie als kleines Kind abgöttisch geliebt hatte, womöglich ihre Großeltern gewesen? Man hatte ihr nur erzählt, dass sie jetzt weit weg wohnten. Ihr Onkel fuhr fort: »Du brauchst deswegen keine Angst zu haben, Mädchen, es liegt daran, dass wir Vaethyr sind und keine Menschen. Deine Familie lebt in der Menschenwelt, aber du wirst den Ruf der Anderswelt spüren, das Bedürfnis, wie ein wildes Tier unter dem Sternenzelt umherzuwandeln. Du wirst erfahren, wie es ist, sowohl Jäger als auch Meute zu sein und die rohe Flanke deiner Beute aufzureißen …«
An dieser Stelle war ihr Vater neben ihnen aufgetaucht und sagte: »Das reicht, Comyn.«
Er hatte wütend geklungen. Ihr Onkel hatte daraufhin gebrummt: »Du hast kein Recht, deine Kinder vor der Wahrheit darüber, was sie sind, zu bewahren«, worauf Auberon erwidert hatte: »Und es ist nicht deine Aufgabe, ihnen irgendwas zu erzählen, das überlässt du lieber mir und Jess.«
Seltsam, dass ihr diese Erinnerung heute Abend kam. Die Nachricht von Brewsters Tod im Winter vor zwei Jahren hatte sie sehr traurig gemacht. Hatten ihre Großeltern es geschafft, die Spirale zu erreichen – die musikalischen Eltern ihrer Mutter,
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