Vaethyr: Die andere Welt
…?
Jedes Mal, wenn sie Stonegate betrat, war es anders. Diesmal wurde aus dem Haus ein trüber, verrauchter Morast aus Heranwachsenden im Kerzenschimmer, durchtränkt vom Geruch verschütteten Biers. Im großen Saal wurde getanzt, die Gäste saßen auf den Treppenstufen und entlang der Galerien. Einzelne Grüppchen zogen sich in die Schlafzimmer zurück, im weihrauchgeschwängerten Wintergarten auf dem Dach erzählte man sich Spukgeschichten. Ein paar Türen waren verschlossen, aber von Jons Eltern war nichts zu sehen. Mel, Faith und Rosie mussten zugeben, dass es eine verdammt gute Party war.
Abgesehen davon, dass Jon unerreichbar war.
Wohin auch immer Rosie sich im Haus begab, er war woanders. Kaum war sie in seine Nähe vorgedrungen, da schien er auch schon zu etwas Aufregenderem aufzubrechen. Schließlich landete sie auf dem Teppich in seinem Zimmer, trank Apfelwein aus der Flasche und ließ sich ihre Ohren von Indiemusik zudröhnen. Bald fing das College an. Dies könnte ihre letzte Chance bei ihm sein. Und sicherlich ihre einzige Chance, sein Schlafzimmer von innen zu sehen.
Wie betrunken Jon wohl sein müsste, um sie plötzlich verführerisch zu finden? Wie betrunken müsste sie sein, um alle Vorsicht in den Wind zu schlagen und sich ihn zu schnappen?
Faith, die neben ihr saß, trank Limonade und war offensichtlich überfordert, Mel knutschte in einer Ecke mit einem Jungen, den sie erst seit ein paar Minuten kannte. Andere lagen ausgestreckt auf dem Boden und auf dem Bett. Für eine Unterhaltung war es viel zu laut. Es war dunkel im Schlafzimmer, nur vom Korridor fiel trübes Licht herein, und dort sah sie Jon stehen und sich angeregt mit jemandem unterhalten, umgeben von einem halben Dutzend seiner Freunde. Neid packte sie. Was trieben sie in ihrem geheimnisvollen Zirkel bloß? Kiffen, Politisieren, Flaschendrehen?
Rosie sah, dass es Lucas war, mit dem Jon sich unterhielt. Schwankend erhob sie sich, um zu ihrem Bruder zu gehen, aber in den vier Sekunden, die sie brauchte, um den Flur zu erreichen, waren bereits alle verschwunden.
Lucas sah Rosie in der Tür, wo voller Hoffnung ihr Gesicht aus dem Dunkel auftauchte, und er hätte gern auf sie gewartet, aber es war zu spät. Jon und die anderen, die nichts mitbekamen, zogen ihn mit sich, und der Moment, wo er etwas hätte sagen können, war vorüber.
Draußen umfing sie die Sommernacht mit einem kühlen Lüftchen. Jon führte die Gruppe durch ein Gewirr aus Rhododendren und Birken auf einen Bergkamm, wo ein Fels vulkanischen Ursprungs aus dem Heidelandgras ragte. Unter dem Felsen befand sich eine flache Mulde. Der säuerliche Geruch von zertretenem Gras und Farn lag in der Luft. Eichen rauschten vor dem mitternächtlichen Himmel.
Lucas kannte diesen Platz. Freias Krone. In der Mulde breitete Jon ein rotes Samttuch auf dem Boden aus und nahm darauf im Schneidersitz Platz. Mit seinen wehenden Haaren, die auf sein indisches Patchworkoberteil fielen, sah er aus wie ein schöner Schamane, ätherisch und in sich ruhend.
Zu seiner Schar gehörten vier junge Männer und drei Mädchen aus Jons College, alle menschlicher Abstammung, soweit Luc das einschätzen konnte. Manche hatten Musikinstrumente dabei. Aufmerksam saß Lucas in dem Kreis und beobachtete Jon. Alle verstummten in Erwartung einer Zeremonie. Jon zog ein Päckchen bräunlicher, ledriger Scheiben heraus, Pilzkappen. Er legte sie auf einen roten Emailleteller, holte ein Taschenmesser heraus und schnitt jede davon in sechs dicke Scheiben. Dann ließ er den Teller kreisen, als lägen Hostien darauf. Lucas beobachtete, wie die anderen sich etwas von dem Zeug nahmen und es sich mit andächtig geschlossenen Augen auf ihre Zungen legten. Als der Teller bei ihm ankam, zögerte er.
Jons Blick traf seinen. »Nimm nur«, sagte er.
»Was ist das?« Gleich darauf kam er sich wie ein Idiot vor, jetzt hatte er sich als unbedarfter Neuling geoutet.
»Traumblätterpilz«, sagte Jon und sah ihn dabei eindringlich an. »Der wächst in den Schattenreichen. Er öffnet die Pforten der Wahrnehmung. Starkes Zeug. Hast du Angst?«
»Nein«, beeilte Lucas sich, ihm zu versichern. Er nahm eine dicke Scheibe und legte sie sich auf die Zunge. Sie schmeckte modrig und bitter und fühlte sich an wie Gummi, aber auch ein wenig schleimig. Es schüttelte ihn beim Kauen und er schluckte sie schnell hinunter. Da er sie beinahe unzerkaut schluckte, hätte er sie fast wieder erbrochen. Nur Stolz und Panik hielten sie unten. Alle
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