Vampir sein ist alles
Schreibtisch hochheben und durch den Raum schleudern können, aber wie die Dinge standen, konnte ich nur unbeholfen aus meinem Versteck hervorkrabbeln und landete dabei auf dem Hintern. Die Plastikfolie unter mir riss, und ich blieb mit dem Stiefelabsatz in der Plane hängen, mit der der Tisch abge deckt war, doch ich rappelte mich so schnell wie möglich mit
erhobenen Fäusten auf.
Keiner beachtete mich.
Alison hatte Sebastian am Hals gepackt und drückte ihm die Kehle zu, so fest sie konnte. Offenbar hatte sie noch nicht mitbekommen, dass Vampire keine Luft brauchten. Aber sie schien Sebastian trotzdem wehzutun, und so beschloss ich, mit meiner Rettungsaktion weiterzumachen.
Weil Alison halb so groß war wie Sebastian und nichts auf den Rippen hatte, ging ich davon aus, dass er sie bändigen konnte - solange keine Magie im Spiel war. Ich schärfte also meinen magischen Blick.
Und schaute in das Gesicht von Hel.
Ja, es war Hel, die nordische Todesgöttin. Ich erkannte SIE sofort, denn die eine Hälfte IHRES Gesichts war verfault wie bei einer Leiche, und die andere war ... nun ja, irgendwie blau - marineblau, würde ich sagen, oder vielleicht auch indigoblau.
Ich hätte vermutlich beeindruckter von der verfaulten Seite sein sollen, wo Fleischfetzen von milchweißen Knochen herunterhingen und Maden herumkrabbelten, aber ich hatte noch nie zuvor ein Wesen mit richtig blauer Haut gesehen. IHRE vollen, sinnlichen Lippen waren von einem etwas dunkleren Blauton, und IHRE Wimpern hatten die Farbe von Lapislazuli. Ich glaubte auch, ein nachtblaues Schimmern in IHREM schwarzen Haar zu erkennen, das zu dicken Zöpfen geflochten war und IHR bis über die Schultern reichte.
Und SIE wirkte ziemlich gelangweilt. Als die Göttin merkte, wie ich SIE anstarrte, verdrehte SIE die Augen, als wollte SIE sagen: „Kannst du dir vorstellen, wie sehr es mich anödet, hier festzusitzen und diesen blöden Job zu machen?“ Natürlich hätte ich mich wesentlich wohler gefühlt, wenn IHR rechter Augapfel dabei nicht aus seiner Höhle hervorgetreten wäre.
Mir fiel auch etwas Glänzendes, Silbernes an Hels Handgelenken auf - eine symbolische Kette, mit der die Göttin an Alison gefesselt war?
„Möchtest du frei sein?“, fragte ich Hel halb mit meiner eigenen und halb mit Liliths Stimme.
Hel verzog den Mund zu einem wirklich scheußlichen Lächeln und zeigte dabei IHRE verfaulten Zähne. „Oh ja“, zischte sie.
Ich ließ Lilith an die Oberfläche kommen. Es gab einen lauten Knall, der wie ein Schuss klang, dann war ich plötzlich woanders.
Ich befand mich nicht mehr in dem Bürogebäude, sondern irgendwo an einem Ort, an dem ich rings um mich nur ein grobkörniges Weiß sah. Ein Horizont war nicht zu erkennen.
„Schwester, ich rufe dich!“, hörte ich eine Stimme sagen, die meine und zugleich nicht meine war.
Hel trat aus dem trüben Weiß hervor. Ihr blauschwarzes Haar flatterte in einem nicht vorhandenen Wind, und in einem Loch in ihrer Wange krabbelten unzählige Maden herum. Ich hoffte nur, dass Lilith ebenso furchterregend aussah. Hel nickte auffordernd, als wollte SIE sagen: „Lass es uns tun.“
Ich stürzte mich wie ferngesteuert mit erhobener Faust auf SIE, und Hel holte zum Gegenschlag aus. Eine unaufhaltbare Kraft traf auf ein unbewegliches Objekt. Ich spürte das Beben nach dem Zusammenprall, das die ganze Welt zum Einsturz hätte bringen müssen, doch keine der beiden
Göttinnen schien Schaden genommen zu haben.
Dann lachten SIE herzlich.
„Danke“, sagte Hel und verschwand wieder in dem trüben Weiß. Durch Lilith hatte ich verstanden, dass der Kampf nur Show gewesen war. Die von dem einen Schlag ausgelöste
Erschütterung hatte Hel von IHREN Fesseln befreit.
Aus Weiß wurde Schwarz.
Als ich zu mir kam, beugte sich Sebastian über mich. „Na“, sagte er, „das war ein bisschen so, als hättest du eine Atombombe gezündet, um eine Fliege zu erledigen.“
Es roch tatsächlich etwas verbrannt. Ich rieb mir die Augen und sah mich um. Alison lag mit geschlossenen Augen auf dem Boden. Die Abdeckfolie war rings um sie in Form einer nordischen Rune geschmolzen. „Ist sie tot?“
„Nein“, entgegnete er. „Wahrscheinlich nur zu Tode erschrocken. Wirklich, Garnet, musstest du Lilith unbedingt rauslassen? Weißt du überhaupt, wie das ist?“
Nein, das wusste ich nicht. Wenn Lilith kam, verabschiedete ich mich. Das war unsere Vereinbarung. „Aber ... aber .. stammelte ich. „Es war
Weitere Kostenlose Bücher