Vampire Academy 04
hätte ich dann überhaupt genügend Geschick, ihn tatsächlich zu überwältigen? Dieselben Fragen, die ich mir schon während der vergangenen zwei Wochen gestellt hatte, plagten mich immer wieder aufs Neue. Alles, was ich wusste, hatte Dimitri mich gelehrt, und mit seinen noch verstärkten Strigoi-Reflexen würde er wahrhaft der Gott sein, als den ich ihn im Scherz immer bezeichnet hatte. Mein Tod lag also durchaus im Bereich des Möglichen.
Doch im Augenblick waren derartige Grübeleien nicht gerade hilfreich, und ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich fast eine Stunde lang wach gelegen hatte. So ging das nicht weiter. Ich musste in Topform sein. Also tat ich etwas, von dem ich wusste, dass ich es eigentlich nicht tun sollte, das jedoch immer funktionierte, wenn ich meinen Kopf frei machen wollte – im Wesentlichen deshalb, weil ich sozusagen im Denken und Fühlen einer anderen Person aufging.
Um in Lissas Gedanken- und Gefühlswelt zu schlüpfen, bedurfte es meinerseits nur eines kleinen Aufwands an Konzentration. Ich hatte nicht gewusst, ob ich es schaffen würde, wenn wir so weit voneinander entfernt waren, aber wie ich schnell feststellte, war der Prozess nicht anders, als hätte ich direkt neben ihr gestanden.
In Montana war später Vormittag, und da Samstag war, hatte Lissa keinen Unterricht. Seit ich fort war, hatte ich sehr hart daran gearbeitet, mentale Mauern zwischen uns aufzubauen und Lissa und ihre Gefühle fast vollkommen auszusperren. Jetzt, da ich in ihrem Denken war, fielen diese Mauern in sich zusammen, und ihre Gefühle trafen mich wie eine Flutwelle. Sie war sauer. Richtig sauer.
„Warum denkt sie eigentlich immer, sie müsste nur mit den Fingern schnippen, und ich würde überallhin gehen, wo sie will und wann sie es will?“, knurrte Lissa.
„Weil sie die Königin ist. Und weil du einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hast.“
Lissa und Christian, ihr Freund, hatten es sich auf dem Dachboden der Schulkapelle gemütlich gemacht. Als ich die Umgebung erkannte, hätte ich mich beinahe sofort wieder aus ihrem Kopf zurückgezogen. Die beiden hatten hier oben schon viel zu viele „romantische“ Begegnungen gehabt, und ich wollte nicht in der Nähe sein, wenn demnächst irgendwelche Kleider heruntergerissen würden. Glücklicherweise – oder vielleicht auch nicht – sagten mir ihre verärgerten Gefühle, dass es heute wohl keinen Sex geben würde, nicht bei ihrer üblen Laune.
Tatsächlich steckte eine gewisse Ironie dahinter. Denn ihre Rollen waren vertauscht. Lissa war diejenige, die tobte, während Christian kühl und gefasst blieb und um ihretwillen versuchte, Ruhe zu bewahren. Er saß an die Wand gelehnt auf dem Boden und hielt sie zwischen seinen gespreizten Beinen im Arm. Sie legte den Kopf an seine Brust und seufzte.
„Während der letzten Wochen habe ich alles getan, was sie von mir verlangt hat! ‚Vasilisa, führen Sie bitte diesen dummen Royal, der zu Besuch gekommen ist, auf dem Campus herum.‘ – ‚Vasilisa, springen Sie bitte für dieses Wochenende in ein Flugzeug, damit ich Sie irgendwelchen langweiligen Würdenträgern hier bei Hof vorstellen kann.‘ – ‚Vasilisa, arbeiten Sie bitte ein wenig ehrenamtlich mit den jüngeren Schülern. Das macht einen guten Eindruck.‘“ Trotz Lissas Frustration konnte ich mich einer gewissen Belustigung nicht erwehren. Sie ahmte Königin Tatianas Stimme perfekt nach.
„Letzteres hättest du auch freiwillig getan“, bemerkte Christian.
„Ja … wobei die Betonung auf freiwillig liegt. Ich hasse es, dass sie in letzter Zeit ständig versucht, mir mein Leben zu diktieren.“
Christian beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. „Wie gesagt, du hast einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Du bist jetzt ihr Liebling. Sie will sicherstellen, dass du sie gut dastehen lässt.“
Lissa runzelte finster die Stirn. Obwohl die Moroi in von Menschen verwalteten Ländern lebten und deren Regierungen unterstellt waren, wurden sie außerdem von einem König oder einer Königin regiert, der oder die aus einer der zwölf königlichen Moroi-Familien stammte. Königin Tatiana – eine Ivashkov – war die amtierende Herrscherin, und sie hatte an Lissa, der letzten lebenden Dragomir, ein besonderes Interesse entwickelt. Und sie hatte mit ihr eine Vereinbarung getroffen. Wenn Lissa nach ihrem Abschluss an der St.-Vladimir-Akademie bei Hofe lebte, würde die Königin im Gegenzug dafür sorgen, dass sie die Lehigh University in
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