Vampire Academy 06 ● Schicksalsbande
Ich weiß nicht, wie lange sie auf dem Parkplatz blieben, nur dass sie zum Glück die Autos nicht durchsuchten. Ehrlich? In meinem Kopf gab es nur noch wenige zusammenhängende Gedanken. Die Wut war erloschen, aber in meinem Bewusstsein herrschte ein einziges Chaos. Irgendwie konnte ich keinen konkreten Gedanken mehr fassen. Mir war übel, und ich befolgte einfach Sonyas Anweisungen und blieb unten, während ich alles tat, um Victors Leichnam nicht anzusehen.
Selbst nachdem die Stimmen verklungen waren, ließ sie uns noch im Wagen sitzen. Endlich stieß sie den Atem heftig aus und konzentrierte sich auf mich. „Rose?“ Ich gab nicht sogleich Antwort. „Rose?“
„Ja?“, fragte ich mit brüchiger Stimme.
Ihre Stimme klang beruhigend und schmeichelnd. Wiederum spürte ich dieses Kribbeln auf meiner Haut, dazu ein Verlangen, Sonya zu gefallen. „Sie müssen die Toten ansehen. Öffnen Sie die Augen!“
Die Toten? Nein. Mein Verstand fühlte sich an, als sei er außer Kontrolle geraten. Ich war klug genug zu wissen, dass es keine gute Idee wäre, Geister hierher zu holen. „Ich kann nicht.“
„Sie können es“, sagte sie. „Ich werde Ihnen helfen. Bitte!“
Ich konnte mich gegen ihren Zwang nicht wehren. Ich dehnte meine Sinne aus und ließ die Mauern herab, mit denen ich mich normalerweise umgab. Es waren jene Mauern, die mich von der Welt der Toten und der Geister trennten, die mir folgten. Binnen Sekunden erschienen durchscheinende Gesichter vor mir, einige wie normale Leute und andere schrecklich und schauerlich. Sie öffneten den Mund und wollten sprechen, waren dazu aber nicht imstande.
„Was sehen Sie?“, fragte Sonya.
„Geister“, flüsterte ich.
„Sehen Sie auch Victor?“
Ich spähte in den Schwarm von Gesichtern und suchte nach einer vertrauten Person. „Nein.“
„Drängen Sie sie zurück!“, sagte sie. „Ziehen Sie Ihre Mauern wieder hoch.“
Ich versuchte, ihre Anweisung zu befolgen, aber es fiel mir schwer. Mir fehlte die Willenskraft dazu. Ich spürte eine Ermutigung von außen und begriff, dass Sonya mich noch immer mit Zwang belegte. Sie konnte die Geister nicht zum Verschwinden bringen, aber Gefühle der Unterstützung und Entschlossenheit stärkten mich. Ich blendete die rastlosen Toten aus.
„Dann ist er fort“, erklärte Sonya. „Er wurde entweder vollständig von der Welt der Toten verzehrt, oder er wandert nun als rastloser Geist umher. So oder so, alle verbleibenden Lebensfäden sind gekappt. Er kann nicht ins Leben zurückkehren.“ Sie wandte sich zu Jill um. „Geh und hol Dimitri!“
„Ich weiß aber nicht, wo er ist“, antwortete Jill erschrocken.
Sonya lächelte, doch das Lächeln erreichte ihre Augen nicht. „Ich bin mir sicher, er ist ganz in der Nähe. Und schaut zu. Geh um das Motel herum, um den Häuserblock, was auch immer. Er wird dich sicher finden.“
Jill ging; sie brauchte keinen Zwang. Als sie fort war, begrub ich das Gesicht in den Händen. „Oh Gott! Oh Gott! Die ganze Zeit über habe ich es bestritten, aber es ist wahr: Ich bin doch eine Mörderin.“
„Denken Sie jetzt noch nicht darüber nach“, sagte Sonya. Die Art, wie sie das Kommando übernahm, war beinahe tröstlich. Beinahe. Es war einfacher, Befehle entgegenzunehmen, als allein und auf sich gestellt zu sein. „Beschäftigen Sie sich später mit Ihren Schuldgefühlen. Für den Moment müssen wir den Leichnam loswerden.“
Ich nahm die Hände von den Augen und zwang mich, Victor anzusehen. Übelkeit stieg in mir auf, und ich konnte diese verrückten Gefühle bald noch weniger beherrschen. Ich stieß ein raues Lachen aus. „Ja. Der Leichnam. Ich wünschte, Sydney wäre hier. Aber wir haben keine magischen Tränke. Die Sonne wird ihn nicht zerstören. Seltsam, nicht wahr? Strigoi sind schwerer zu töten.... schwerer zu töten und leichter aufzuräumen.“ Ich lachte abermals, weil mein Gefasel etwas Vertrautes hatte .... es war wie Adrian in einem seiner verdrehten Momente. Oder Lissa, wenn Geist sie an den Rand des Wahnsinns gedrängt hatte. „Das ist es, nicht wahr?“, fragte ich Sonya. „Die Flut .... die Flut, vor der Sie mich gewarnt haben. Lissa ist dem Geist entkommen, aber mich hat er schließlich besiegt .... genauso wie Anna .... genauso wie der Traum .... oh Gott! Dies ist der Traum, nicht wahr? Aber ich werde nicht aufwachen .... “
Sonya starrte mich an, ihre blauen Augen waren groß vor .... vor Angst? Spott? Schreck? Sie griff nach meiner Hand.
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