Vampire Academy 06 ● Schicksalsbande
überstand die Fahrt, indem ich nach Lissa sah. Indem ich mich auf sie konzentrierte, entfernte ich mich von den schrecklichen Schuldgefühlen und der Leere, die ich in mir spürte, von dem Grauen darüber, was ich Victor angetan hatte. Wenn ich bei Lissa war, war ich nicht mehr ich, und in diesem Augenblick war dies mein größter Wunsch. Ich wollte nicht länger ich sein.
Aber auch für sie liefen die Dinge nicht gerade günstig. Wie immer belastete sie eine ganze Anzahl von Problemen. Sie hatte das Gefühl, fast – wirklich fast – entwirrt zu haben, wer Tatiana getötet hatte. Die Antwort schien in Reichweite zu liegen, wenn sie die Hände nur ein bisschen weiter hätte ausstrecken können. Die Wächter hatten den Hausmeister Joe herbeigeschafft, und mithilfe einiger Überredungskünste – sie hatten Methoden, die keines magischen Zwangs bedurften –, hatte er zugegeben, den Moroi mit der gekrümmten Hand in der Nacht des Mordes in meinem Gebäude gesehen zu haben. Doch sosehr sie auch in ihn drangen, Joe wollte nicht zugeben, dass er bezahlt worden war – weder von jenem Mann noch von Daniella. Das Äußerste, was er eingestand, war die Tatsache, dass er in jener Nacht mit der Zeit für seine Runden ein klein wenig danebengelegen habe. Das war aber auf keinen Fall ein konkreter Beweis, der mich hätte retten können.
Lissa verfügte außerdem über Ambroses Brief, in dem Tatiana auf subtile Weise bedroht worden war. Der Verfasser war gegen das Altersgesetz gewesen, weil er es zu lasch fand, er missbilligte Tatianas Unterstützung von Geist und verübelte auch die geheimen Trainingsstunden. Der Brief mochte zwar absolut höflich klingen, aber wer auch immer ihn geschrieben hatte, er hatte einen ernsten Groll gegen die Königin gehegt. Was die Theorie unterstützte, dass der Mord politisch motiviert gewesen war.
Natürlich gab es immer noch Unmengen persönlicher Motive für das Verbrechen. Das schmutzige Durcheinander mit Ambrose, Blake und den betroffenen Frauen machte sie alle zu Mordverdächtigen. Der Umstand, dass Daniella Ivashkov ebenfalls auf dieser Liste stand, war ein ständiger Stressfaktor für Lissa, und sie wagte nicht, Adrian auch nur ein Wort davon zu verraten. Das Tröstliche an der Angelegenheit war allerdings, dass Daniellas Bestechung dazu gedient hatte, Adrian aus Scherereien herauszuhalten – und meine Schuld nicht zu untermauern. Der unbekannte Moroi hatte diese Bestechung finanziert. Wenn Daniella Tatiana getötet hätte, so hätte sie gewiss für beide Lügen bezahlt, die Joe erzählt hatte.
Und natürlich lastete auch die letzte Prüfung auf Lissa. Das Rätsel. Das Rätsel, das allzu viele Lösungen zu haben schien – und das doch wiederum keine einzige hatte. Was muss eine Königin besitzen, um ihr Volk wahrhaft zu regieren? In gewisser Hinsicht war diese Prüfung schwieriger als die anderen. Diese hatten eine handfeste Komponente gehabt, gewissermaßen. Die letzte Prüfung aber? Hier ging es um ihren eigenen Intellekt. Kein Feuer schüren. Keine Furcht, der sie ins Auge blicken musste.
Außerdem war ihr verhasst, dass sie das Rätsel so ernst nahm. Sie brauchte diesen Stress nun wirklich nicht, nicht zusätzlich zu allem anderen, was gerade geschah. Das Leben wäre einfacher gewesen, wenn sie die Prüfungen weiterhin lediglich als eine Scharade betrachtet hätte, um Zeit zu schinden. Immer mehr Leute trafen bei Hofe ein, die die Wahl mitverfolgen wollten, und immer mehr von ihnen entpuppten sich – zu ihrem großen Erstaunen – als Befürworter ihrer Person. Sie konnte kaum irgendwohin gehen, ohne dass jemand etwas von dem Drachen oder der wiedergeborenen Alexandra rief. Es hatte sich auch herumgesprochen, dass ein Attentat auf sie verübt worden war, was ihre Befürworter noch mehr anzuspornen schien.
Aber natürlich hatte Lissa auch viele Gegner. Vor allem hielt man ihr immer wieder das alte Gesetz vor: dass sie, wenn es so weit war, für die Wahl nicht zur Verfügung stehen könne. Ein weiterer Punkt gegen sie war ihr Alter. Sie sei zu jung, sagten ihre Gegner. Wer würde ein Kind auf dem Thron haben wollen? Aber Lissas Bewunderer wollten gar nichts davon wissen. Sie kamen immer wieder auf die Herrschaft der jungen Alexandra zu sprechen und auf die Wunder, die Lissa mit ihren Heilkünsten schon gewirkt hatte. Das Alter sei doch unerheblich. Die Moroi brauchten junges Blut, riefen sie. Sie verlangten außerdem, dass die Wahlgesetze geändert würden.
Wenig
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