Vampire Academy 06 ● Schicksalsbande
peinigte ihn. Das Gespräch mit einem Strigoi peinigte ihn ebenfalls. Und vielleicht – nein, sogar mit Sicherheit – wollte er sich verstecken und alles weit von sich schieben. Aber er war eben Dimitri. Dimitri schützte jene, die seinen Schutz benötigten, und selbst wenn es nicht direkt lebensbedrohlich war, am Feuer Liedern zu lauschen, so war es doch trotzdem eine halbwegs gefährliche Situation für eine Zivilistin wie Sydney. Das durfte er nicht zulassen. Außerdem wusste er, dass sich Sydney sicherer fühlen würde, wenn wir beide in der Nähe waren.
Ich wollte gerade sagen, dass ich sie begleiten würde, aber da kam mir Joshua zuvor. „Willst du nach wie vor meine Höhle sehen? Draußen ist es noch etwas hell. Du wirst besser sehen können, solange wir noch keine Fackel benutzen müssen.“
Ich hatte mein letztes Gespräch mit Joshua vollkommen vergessen und machte sofort Anstalten, sein Angebot abzulehnen. Aber dann blitzte etwas in Dimitris Augen auf, so etwas wie Missbilligung. Aha! Er wollte also nicht, dass ich mit einem jungen, gut aussehenden Burschen wegging. War dies eine berechtigte Sorge, wegen der Hüter? Oder war es Eifersucht? Nein, Letzteres gewiss nicht. Wir hatten – viele, viele Male – festgestellt, dass Dimitri gar keine romantische Beziehung mit mir wollte. Er war sogar für Adrian eingetreten. War das so etwas wie die Reaktion eines Exfreunds? In Rubysville hatte ich geglaubt, dass Dimitri und ich Freunde sein könnten, aber daraus würde nichts, wenn er glaubte, er könne mich und mein Liebesleben kontrollieren. Ich hatte schon Mädchen mit solchen Exfreunden gekannt. So eines würde ich nicht werden. Ich konnte meine Zeit verbringen, mit wem ich wollte.
„Klar“, sagte ich. Dimitris Miene verdüsterte sich. „Mit Freuden.“
Joshua und ich gingen davon und ließen die anderen zurück. Ich wusste, ein Teil meiner Entscheidung beruhte auf meiner Absicht, meine Unabhängigkeit zu beweisen. Dimitri hatte gesagt, dass wir einander ebenbürtig seien, doch er hatte auf dieser Flucht auch schon schrecklich viele Entscheidungen ohne mich getroffen. Es war schön, das Gefühl zu haben, ausnahmsweise einmal die Oberhand zu behalten, und außerdem mochte ich Joshua und war irgendwie neugierig, mehr darüber zu erfahren, wie seine Leute so lebten. Ich glaube, auch Sydney wollte nicht, dass ich fortging, aber Dimitri würde sich schon um sie kümmern.
Unterwegs kamen Joshua und ich an vielen Hütern vorbei. Genau wie schon früher an diesem Tag wurden mir ziemlich viele Blicke zuteil. Statt die Straße hinunterzugehen, wo sein Vater lebte, führte mich Joshua um den kleinen Berg herum. Der Berg war zwar keineswegs winzig, aber nachdem ich in der Nähe der Rockys gelebt hatte, erschien mir alles in den Appalachen irgendwie klein. Vermutlich war ich ein Bergsnob.
Trotzdem, der Berg erstreckte sich über ein ziemlich ausgedehntes Gebiet, und wir entfernten uns immer weiter und weiter von der Hauptsiedlung der Hüter. Der Wald wurde dichter und das Licht spärlich, als die Sonne schließlich am Horizont versank.
„Ich lebe sozusagen am Rand unserer Siedlung“, meinte Joshua entschuldigend. „Wir wachsen immer weiter, und in der Mitte der Stadt ist nicht viel Platz.“ Ich hielt den Ausdruck Stadt ohnehin für reichlich übertrieben, sprach es jedoch nicht laut aus. Ja. Ich war ganz bestimmt ein Snob. „Aber die Höhlen sind weitläufig, also haben wir immer noch Platz.“
„Sind sie denn natürlichen Ursprungs?“, erkundigte ich mich.
„Einige ja. Andere sind aufgelassene Minen.“
„Hübsch hier draußen“, bemerkte ich. Mir gefielen die Laubbäume tatsächlich. Ich mochte Heimweh nach Montana haben, aber die breiten Blätter hier boten einen interessanten Kontrast zu Kiefernnadeln. „Und he, zumindest hast du jede Menge Privatsphäre, stimmt’s?“
„Das stimmt.“ Er lächelte. „Ich habe mich schon gefragt, ob du es für dich .... ich weiß nicht. Ob es zu ländlich ist. Oder zu wild. Du hältst uns wahrscheinlich für Wilde.“
Seine Erklärung verblüffte mich. Die meisten Hüter hatten ihre Lebensweise doch erbittert verteidigt, weswegen ich nicht damit gerechnet hätte, dass irgendjemand auch nur auf den Gedanken käme, ein Außenseiter könnte sie infrage stellen – oder dass es in diesem Fall irgendeinen Hüter auch nur im Geringsten interessieren mochte.
„Es ist einfach anders“, sagte ich diplomatisch. „Ganz anders als das, was ich gewohnt bin.“
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