Vampire Earth 1 - Tag der Finsternis
gewaltig, dass ich mich frage, was du mit ihm machst, damit du nachts schlafen kannst.«
Der Gegenstand, den der Hexenmeister nun zwischen sie stellte, sah aus wie ein tellergroßer runder Spiegel. Er hing etwa auf Gesichtshöhe, gehalten von der gleichen geheimnisvollen Kraft, die die Lichtkugel nahe der Decke schweben ließ. Valentine sah darin sein eigenes Spiegelbild, das allerdings sehr verschwommen war.
»Was ist das?«, fragte er.
Amus Gesicht erschien im Spiegel. Dann verschwamm das Bild des Weltenwebers, als bestünde seine Haut aus Wolken, die sich im Wind bewegten. »Man könnte es mit dem Skalpell eines Chirurgen vergleichen, David. Ich werde es benutzen, um dich zu operieren. Vor dir steht ein Becher. Trink ihn aus.«
Valentine blickte auf den gewebten Teppich. Ein Holzbecher, rund wie eine ausgehöhlte Kokosnuss, stand vor ihm. War er schon die ganze Zeit da gewesen? Valentine schnupperte misstrauisch daran.
»Es ist nur eine Kleinigkeit, um die Zeremonie zu erleichtern. Das Zeug hat keinen Geschmack.«
Valentine trank. Bevor er das Bewusstsein verlor, schaute er wieder in das Spiegelding. Erst sah er sein Gesicht, dann das des Hexenmeisters, dann einen Wolf. Die Bilder verschwammen: Amu, Wolf, David, Amu, Wolf, David. Nur die Augen waren die gleichen. Aber es waren nicht seine. Und auch nicht die von Amu. Es waren die des Wolfs. Valentine konzentrierte sich auf die Augen der drei Gesichter, während sie von einer Manifestation zur anderen übergingen, und immer hatten sie dieses eisblaue Starren.
Der junge Wolf erwachte und nahm ein wildes Durcheinander von Geräuschen und Gerüchen wahr. Kiefernnadeln, muffige Teppiche, trockene Flechten an der Wand und die echten Wölfe wetteiferten alle darum, seine Sinne zu überwältigen. Er konnte den Herzschlag der Tiere hören wie durch ein Stethoskop. Ihr Atem klang wie ein Sturmwind. Zu viel! Zu viel!, kreischte ihm sein Hirn zu.
Er sprang auf und warf sich von dem schlafenden Rudel weg wie von einem Katapult geschleudert, und sein Aufprall an der Wand war so heftig, dass er sich Prellungen zuzog.
David, bleib ruhig. Deine Sinne sind nur ein wenig geschärft, das ist alles. Amus Stimme in seinem Kopf klang tröstlich und beruhigend. Ich werde dir durch die ersten paar Tage helfen; dann musst du alleine weiterlernen. Du musst lernen, deine Sinne zwischen zwei Ebenen, »hart« und »weich«, hin und her zu schalten. Zunächst musst du lernen, mit weichen Ohren zu hören und mit der weichen Nase zu riechen. Du wirst die harten Ohren und die harte Nase später einsetzen, um Dinge über weite Entfernungen hinweg wahrnehmen zu können.
»Wo bist du?«, fragte Valentine und hörte das Echo seiner Stimme in der äußeren Höhle, wo er gewartet hatte, bevor er hereingerufen wurde.
Ich habe uns miteinander verbunden. Ich kann dich nicht besonders gut verstehen. Ich bin bei dieser Art von Kommunikation mit menschlichen Gedankenformen nicht so gut wie viele andere. Ich habe nur Eindrücke deiner Gefühle. Du musst tief atmen, deine Lunge mit Luft füllen und dich entspannen. Zieh alles zurück in deine Mitte. Mach deine Augen weich, hör auf, den Blick auf etwas Bestimmtes zu richten. Mach deine Ohren weich, lass zu, dass sie sich entspannen, und lausche dem Geräusch der Luft vor dir; mach deine Nase weich und rieche die Hitze der Lichtkugel.
Valentine versuchte, sich zu entspannen, aber der Geruch und die Geräusche der schlafenden Wölfe drangen immer wieder in seine Wahrnehmung. Er fühlte sich wie betäubt.
Das machst du sehr gut. Ich denke, du bist ein Naturtalent. Versuche jetzt, aus der Höhle hinauszufinden, auf dem gleichen Weg, auf dem du hereingekommen bist.
Der muffige alte Wandbehang im Eingang stank widerlich, und er eilte daran vorbei. Seine Beine bewegten sich plötzlich zu schnell, und er krachte gegen die Höhlenwand wie ein mechanisches Spielzeug, das von einem Hindernis auf seinem Weg abprallt. Er fand sein Gleichgewicht wieder,
aber das Flackern der Kerzen klang wie Peitschenknallen in seinen Ohren.
Konzentriere dich! Finde deine Mitte!, beschwor ihn die Stimme. Nein, du hast es immer noch nicht. Lass mich dir helfen.
Valentine spürte, wie er stabiler wurde, und die Kakophonie von Empfindungen verschwamm im Hintergrund. Er schaffte es bis zu dem anderen Vorhang, aber als er hindurchging, überwältigte ihn der säuerliche Geruch nach Erbrochenem. Die Galle kam ihm hoch, und auch er leistete seinen Beitrag zu der Pfütze auf dem
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