Vampirsaga 02 - Honigblut
ihre Berührung hinterließ. Jennifer Schreiner Honigblut
Der Schlag in den Spiegel überraschte ihn ebenso wie der kleine Schnitt in den Unterarm, den sie sich zufügte.
„Ich lebe noch!“ Die Erleichterung in ihren Worten war greifbar.
„Mama, Mama!“ Er sah zu, wie das kleine Mädchen aus seinem Zimmer stürmte, wieder nach unten. „Ich lebe noch! Ich bin gar nicht tot!“
Als er begriff, was Melanie zu ihrem Verhalten animiert haben musste, die schreckliche Idee doch gestorben zu sein – nur noch ein Geist – weinte der Mann, der er einmal gewesen war, um das kleine, verzweifelte Mädchen.
Doch Melanies Mutter reagierte nicht, schien die Anwesenheit ihrer Tochter immer noch nicht zu bemerken, oder sie war ihr egal. Total egal.
„Mami?“ Die kleine Melanie baute sich vor der älteren Frau auf. „Mami! Ich bin hier, direkt vor dir, ich bin am Leben!“
Doch Melanies Mutter ignorierte ihr Fleisch und Blut weiterhin, ebenso wie ihr Ehemann, der kurz darauf aus einem der Zimmer kam. Die Mutter drehte sich zu ihm und sah durch ihre Tochter hindurch. „Jetzt können wir ein neues Leben anfangen. Und wir werden neue Kinder bekommen. Schöne, intelligente Kinder!“ Die Mutter gab ein fröhliches Lachen von sich, das weder zu dem Anlass passte, noch zu der Tatsache, dass ihre schöne und intelligente Tochter direkt vor ihr stand.
„Mama?“ Melanie weinte inzwischen. Der Schnitt hatte nicht wehgetan, aber diese Unsicherheit tat weh. Dieses nicht begreifen können.
„Ja! Schön sollten sie sein und intelligent!“ Ihr Vater nahm ihre Mutter in den Arm und fuhr mit der Hand über ihren Bauch, der eine ganz leichte Wölbung aufzuweisen schien.
„Was meinst du, werden es Zwillinge?“
„Hoffentlich werden es schöne Kinder!“
„Mama?“ Melanie trat einen Schritt näher, doch noch immer schienen ihre Eltern sie nicht zu beachten.
Melanie sah sich ihre Hand noch einmal an. Der rote Schnitt war immer noch deutlich zu sehen. Sie kam zu einer Entscheidung, als sie begriff, dass ihre Eltern absichtlich mit ihr spielten.
„Ich bin da! Ihr seht mich! Ich weiß, dass ihr mich seht und hört!“, schrie sie.
Als Antwort lachte ihre Mutter, und es klang sehr glücklich und gehässig. So, als hätte sie sich schon lange auf diesen Tag gefreut. „Ich kann es kaum abwarten, neu zu beginnen. Neue Kinder, neues Leben, neues Glück!“
Melanie sackte in sich zusammen, die Hand, die sie ausgestreckt hatte, um ihre Mutter zu berühren oder zu schlagen, verharrte reglos in der Luft, während sie zu Boden glitt. Sollten Mütter ihre Kinder nicht lieben? Hatte sie bisher nicht immer geglaubt, ihre Mutter sei glücklich mit ihnen?
„Jetzt, wo mein Vater tot ist …“, ihre Mutter beendete ihren Satz nicht. Deswegen waren sie so oft bei ihrem Großvater gewesen? Weil ihre Eltern sie nicht mochten?
Melanie versuchte in den Gesichtern der beiden Erwachsenen zu lesen, die sich zum Gehen umwandten. Plötzlich zögerte ihre Mutter und sah sich verwirrt um, als habe sie etwas vergessen.
„Mama?“ Melanies Stimme klang schwach. Sie schien nicht mehr die Kraft zu haben, zu protestieren oder daran festzuhalten, dass sie noch lebte. Ein Wesen, welches um Anerkennung kämpfte, um die simple Tatsache seiner Existenz. Jennifer Schreiner Honigblut
„Oh, die Vögel!“ Ihre Mutter hetzte an Melanie vorbei, ohne von ihrer Tochter Notiz zu nehmen. Holte den Käfig mit den Kanarienvögeln, der in der Küche gestanden hatte, und nahm ihn mit sich.
Sie warf nicht einmal einen letzten Blick auf ihre Tochter, die auf dem kalten Holzfußboden saß und zusah, wie ihre Welt in Scherben zerbarst – die Vergangenheit bedeutungslos wurde.
Xylos konnte den Schmerz in den Augen des Kindes sehen, und dass sich die Worte ihrer Mutter auf einer tieferen Ebene in ihr festgesetzt hatten, ohne das sie es merkte.
„Ich lebe noch!“, flüsterte Melanie und starrte auf die Blutspur, die die Scherbe auf ihrem Arm hinterlassen hatte.
*** Die junge Vampirin beendete ihre Erzählung, und ihr Schweigen holte Xylos zurück ins Hier und Jetzt. „Wie lange …?“
„Die ganze Nacht und den ganzen folgenden Tag.“ Der Blick, mit dem sie ihn ansah, war ebenso verzweifelt wie in der vorangegangenen Szene. Der Schmerz ebenso frisch.
„Ich habe geglaubt, ich sei tot! Irgendwann habe ich es geglaubt!“
Melanie ließ zu, dass Xylos sie in die Arme nahm und sie
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