Vampirsaga 02 - Honigblut
festhielt, während sie sich an ihn schmiegte. „Jahre später hat mein Therapeut mir erzählt, dass meine Mutter an einer schizotypischen Persönlichkeitsstörung litt. Er hatte herausgefunden, dass sie oft in der Psychiatrie gewesen war. Ihre seltsamen Überzeugungen waren nie von langer Dauer. Und mein Vater hat stets alles getan, um sie zu beruhigen und ihr zu helfen – ohne Rücksicht auf Verluste. Doch diese Erklärung kam Jahre zu spät. Ich habe sie nicht einmal wirklich verstanden. Bis du mich in einen Vampir verwandelt hast. Ich bin für sie tot gewesen, in diesem Moment hat sie wirklich gedacht, ich sei tot und bei dem Unfall gestorben … ebenso, wie ich es geglaubt habe.“
Er wusste, was sie meinte, konnte in ihrer gestammelten Erklärung beinahe sehen, wie die Welt in dieser Nacht für sie die Konturen verlor, die Farben erloschen und das Leben selbst verblasste. Sekunden tickten, wurden zu Minuten, wurden zu Stunden, und das Gefühl des Verlorenseins und sich in der Welt zu verlieren war das einzig Reale.
„Da war nichts mehr, nur noch das Gefühl, nicht mehr zu leben, nur noch aus Kummer zu bestehen.“ Melanie sah auf, als Xylos ihr zärtlich über die Haare strich. „Wäre Fia nicht gekommen, ich wäre dort gestorben.“
Xylos nickte. Er wusste nur zu gut, was es bedeutete, wenn die, die einen lieben sollten, einem das Herz brechen. Von manchen Wunden erholte man sich nie.
Er selbst hatte sich nie erholt. Er zog Melanie an sich, damit sie die Tränen in seinen Augen nicht sehen konnte. Er war ein Wrack, er hatte es nur nie bemerkt. Hatte sich für stark gehalten und mächtig, aber er hatte nur verdrängt.
„Du lebst noch!“, flüsterte er in ihre Haare.
Melanie begann glucksend zu lachen. Bis sie schließlich laut prustete. „Nicht wirklich!“
Als sie Xylos aufgewühlten Blick sah, wurde sie wieder ernster.
„Ich habe nie wirklich versucht mich umzubringen!“, verteidigte sich Melanie. „Ich wollte nur sichergehen, dass ich real bin. Dass ich noch irgendetwas empfinden kann, etwas außerhalb des Kummers.“ Jennifer Schreiner Honigblut
„Hast du es Sofia jemals gesagt?“ Xylos Blick war voller Bewunderung. Sie hatte es überlebt. Seine Melanie hatte es überlebt. Obwohl sie noch so jung gewesen war, so schutzlos und allein.
Die Vampirin sah an ihm vorbei in die Vergangenheit. „Nein, nie!“ Ihre Stimme war tonlos.
„Warum?“ Er dachte daran, wie viel Kummer sie sich vielleicht hätte ersparen können, wie viel an ihr vorübergegangen wäre, wenn sie nicht nach Hause zurückgegangen wäre.
„Ich wollte nicht, dass sie es weiß und sich so fühlt wie ich. Niemand sollte sich so fühlen wie ich, ungewollt und ungeliebt.“
Xylos wünschte sich, er könnte ihr mit seiner Umarmung mehr geben, als das vage Gefühl, dass er für sie da war. Er wollte sie beschützen, sie und ihr Herz in Sicherheit bringen. – Das ist so ziemlich das Dümmste, was du je gewollt hast!, dachte er. Aber der Wunsch blieb bestehen.
„Was ist mit deinen Eltern geschehen?“ Wenn er nur an die kleine Melanie dachte, wie sie sich irgendwann auf den Fußboden zusammengekauert und gedacht hatte, sie sei vielleicht wirklich tot, wollte er zum Mörder werden. Persönlichkeitsstörung und gefühlskalt helfender Ehemann und Vater hin oder her.
„Sie sind kurz nach der Abfahrt von zu Hause überfallen worden. Raubmord. Sofias und mein Erbe, Geld, Wertpapiere, Schmuck und Möbel für immer verschwunden.” Melanie schwieg einen Moment lang, und Xylos glaubte ihre Schuldgefühle beinahe sehen zu können. Sie hatte ihren Eltern an diesem Abend den Tod gewünscht und sich doch stets ihres Wunsches und seiner Erfüllung geschämt. Wie viel schlimmer mussten diese Schuldgefühle geworden sein, als sie von der Erkrankung ihrer Mutter erfahren hatte?
„Wenn sie nicht gestorben wären, hätte Mama sich wieder gefangen und wäre zurückgekommen. Sie hätten sich entschuldigt … und uns geliebt … alles wäre wieder gut geworden, und vielleicht hätte ich es eines Tages verstanden. Verstanden, dass es nicht ihre Schuld war oder meine.“
„Trotzdem gut!”, meinte Xylos, und sein Tonfall sagte ihr, dass er nicht das Erbe meinte.
Xylos wusste, dass er wütend aussah, selbst die kleinen Härchen auf seinem Arm erschienen verärgert. Melanies Eltern hatten es verdient, zumindest ihr Vater, denn eine kurze Erklärung von ihm hätte seine Tochter beruhigen
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