Vampirsohn
Seine Stimme klang unglaublich kleinlaut. Beschämt.
Claire fühlte, wie schrecklicher Zorn in ihr aufstieg, wie es ihr die Zornesröte ins Gesicht trieb. Oh Mann! Ms Leeds hatte gar keine Ehefrau für ihren Sohn gesucht, als sie oben in ihrem Schlafzimmer von ihm sprach. Die Frau betrachtete Claire schlicht als Beute und ihren eigenen Sohn als Raubtier.
»Wann haben Sie Ihre Mutter zuletzt gesehen?«
»Am Tag, an dem sie mich hier herunterbrachte.«
Himmel, man hatte ihn mit zwölf Jahren eingesperrt und alleingelassen …
»Werden Sie jetzt essen?«, fragte er. »Wie Sie sehen, ist mir nichts geschehen.«
Ihr Magen knurrte. »Wie lange bin ich schon hier?«
»Erst seit dem Abendessen. Also noch nicht lange. Es wird noch zweimal Frühstück, ein Mittagessen und noch ein Abendessen geben, und dann werden Sie wieder frei sein.«
Sie sah sich um und stellte fest, dass keine Uhren vorhanden waren. Daher hatte er es sich angewöhnt, die Zeit anhand der Mahlzeiten zu messen. Jesus … Christus.
»Darf ich Ihre Augen sehen?«, fragte sie, und trat einen Schritt auf ihn zu. »Bitte.«
Er stand auf, eine hoch aufragende, mächtige Gestalt in roter Seide. »Ich werde Sie in Ruhe essen lassen.«
Er ging an ihr vorbei, den Kopf abgewandt. Die Ketten schleiften über den Boden. Als er den Schreibtisch erreichte, drehte er den Stuhl so um, dass er von ihr weg zeigte, und setzte sich hin. Er nahm einen Bleistift zur Hand und ließ ihn kurz über einem Bogen dicken, weißen Papiers schweben. Einen Moment später begann er, mit dem Stift über die Seite zu gleiten. Das Geräusch, das dabei entstand, war so sanft wie der Atem eines Kindes.
Claire starrte ihn an und traf eine Entscheidung. Dann warf sie einen Blick über die Schulter auf das Essen. Sie musste essen. Wenn sie sie beide hier herausbekommen wollte, würde sie all ihre Kraft benötigen.
3
Claire aß alles auf, was sich auf dem Tablett befand. Während sie aß, war die Stille im Zimmer in Anbetracht der Situation seltsamerweise recht entspannt.
Nachdem sie die Serviette weggelegt hatte, zog sie ihre Beine auf das Bett und lehnte sich in die Kissen zurück. Sie war müde, fühlte sich aber nicht wie betäubt. Als sie einen Blick auf das Tablett warf, kam ihr der absurde Gedanke, dass sie sich gar nicht mehr daran erinnern konnte, wann sie es sich das letzte Mal gestattet hatte, eine Mahlzeit vollständig aufzuessen. Sie hielt immer Diät und achtete darauf, dass sie nach jedem Essen immer noch ein bisschen Hunger hatte. Das half ihr dabei, ihren Kampfgeist wachzuhalten und hart und konzentriert zu arbeiten.
Jetzt fühlte sie sich ein bisschen träge. Und … hatte sie etwa gerade gegähnt?
»Ich werde mich also an nichts mehr erinnern?«, fragte sie in Richtung seines Rückens.
Er schüttelte den Kopf, so dass sich seine Haarmähne bewegte und dabei fast den Boden berührte. Die Kombination aus Rot und Schwarz war überwältigend.
»Warum nicht?«
»Ich werde Ihnen die Erinnerungen nehmen, bevor Sie gehen.«
»Wie?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Ich … finde sie einfach in Ihren Gedanken und begrabe sie dann.«
Sie zog die Bettdecke über ihre Beine. Sie hatte das Gefühl, dass es nichts bringen würde, nach weiteren Details zu fragen – als ob er sich und seine Wesensart selbst nicht so recht verstehen würde. Interessant. Ms Leeds war ein Mensch, soweit Claire das beurteilen konnte. Somit musste sein Vater offensichtlich ein …
Scheiße, konnte sie das alles wirklich glauben?
Claire berührte ihren Hals und spürte die schwindenden Bissspuren. Doch … ja, sie glaubte es. Und obwohl sich ihr Gehirn krampfhaft gegen die Vorstellung wehrte, dass Vampire wirklich existierten, hatte sie doch den unwiderlegbaren Beweis dafür vor sich.
Fletcher kam ihr in den Sinn. Er war wohl auch kein normaler Mensch. Claire wusste nicht, was er war, aber diese seltsame Stärke, in seinem Alter … Das war einfach nicht natürlich.
Das Schweigen wurde länger, die Minuten verrannen, flossen durch den Raum und versickerten schließlich in der Ewigkeit. War eine Stunde vergangen? Oder nur eine halbe? Oder drei?
Seltsam. Sie mochte das Geräusch, das sein Bleistift machte, wenn er sanft über das Papier glitt.
»Woran arbeiten Sie gerade?«, fragte sie.
Er hielt inne. »Warum wollten Sie meine Augen sehen?«
»Aus einem einfachen Grund. Es würde mein Bild von Ihnen vervollständigen.«
Er legte den Bleistift ab. Als er seine Hand hob,
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