Vampirzorn
Radujevac ...
Das waren Zeiten gewesen! (Radus Träume rasten geradezu an seinem geistigen Auge vorüber.) Nächtliche Überfälle auf Legionäre an der Donau und dakische Weiler; gekaperte Handelsschiffe und wahre Blutorgien im Licht des Vollmonds. Die Menschen dieser Zeit waren unbedarft wie kleine Kinder, als Radu und die anderen über sie kamen. Ihre Naturwissenschaften steckten noch in den Kinderschuhen, sie waren voller Aberglauben und ihr Blut ebenso süß wie dasjenige auf der Sonnseite der fernen Vampirwelt, der Radu entstammte. Doch im Vergleich zu den Szgany der Sonnseite war ihre Zahl gewaltig, es gab unterschiedliche Völker. Ihr Mut war unglaublich und ihr Geschick in der Kriegführung unfassbar!
Dennoch ging es dem Werwolf während der ersten ein-, zweihundert Jahre prächtig ... und den wahren Vampiren ebenfalls! Der Hunde-Lord Radu war nämlich nicht der einzige Lord der Wamphyri, den Shaitan verbannt hatte. Gleich mehrere seiner Erzfeinde waren ungefähr zur gleichen Zeit wie er durch das Tor gekommen. Nonari »Grobhand« Ferenczy etwa und die Gebrüder Karl und Egon Drakul. Auf der Sternseite waren die Drakuls Radus Verbündete gegen Shaitan gewesen; hier jedoch waren sie schlicht und einfach Rivalen. Und was nun Nonari anging:
Nonari hatte einen Blut-Eid geschworen, den Hunde-Lord und jede Spur von ihm wegen der angeblichen »Morde« an seinem Vater Lagula und seinem Onkel Rakhi auszulöschen. In Radu Lykans Augen hingegen handelte es sich dabei keineswegs um Mord, lediglich um die Wiedergutmachung eines großen Unrechts; denn einst hatten Rakhi und Lagula einer üblen Schar von Szgany angehört, die seine Schwester Magda vergewaltigt und ihr nicht nur die Unschuld, sondern auch das Leben genommen hatte. Hah! Die beiden Ferenczys gab es nicht mehr – nur noch Lagulas Sohn, Nonari. So grausig dessen Eid auch gewesen sein mochte, Radus Schwur stand dem seinen in nichts nach. Radu würde nicht ruhen, bis selbst der Name Ferenczy aus dem Gedächtnis getilgt wäre, so als hätte er niemals existiert.
Sie brachten ihre Blutfehde mit auf die Erde, und vielleicht hätten sie es gleich an Ort und Stelle, in Dakien an den Ufern der Donau entschieden. Doch war es eine neue, fremde Welt, und für die Wamphyri stand an erster Stelle stets das Überleben. Also begaben die Drakuls sich hinauf in das Felsengebirge (die späteren Karpaten), um sich dort eine Feste zu suchen beziehungsweise zu errichten; Nonari floh vor Radus Zorn nach Osten und nahm einen anderen Namen an; der Hunde-Lord überquerte mit seinem kleinen Rudel den Fluss, wo sie sich in die Gebiete ringsum verteilten, und wurde schließlich zum Abenteurer und Söldner in einer von Kriegswirren zerrissenen Welt.
Aber mochte die Welt der Antike noch so groß sein, so weitläufig, dass jeder Vampirlord nur davon träumen konnte, war sie doch nicht groß genug ...
Radus Leben (und damit auch die Weltgeschichte) zog wie ein bunter Maskenzug auf den ausgetretenen, schlüpfrigen Bühnenbrettern seiner Erinnerung vorüber. Die Geschichte der Welt. Eine Geschichte voller Kriege. Und Menschen!
Zunächst die Römer! Das Imperium war bereits im Untergang begriffen, jedenfalls dort, wo der Hunde-Lord und die Übrigen aus dem Tor auftauchten. Aye, denn die Goten kamen, und sie waren bloß Vorboten dessen, was noch alles kommen sollte! Was für Kriege, was für Schlachten! Und so viel Blut!
Aber ... Höllenlande? Oh, nein! Für die Wamphyri war es vielmehr ein Paradies ... eine Zeit lang zumindest. Doch Radu hatte bereits festgestellt, wie die Menschen auf die Gegenwart der Wamphyri reagierten: furchtsam zunächst – kein Wunder in einer Welt voller Aberglauben –, doch dann leisteten sie Widerstand! Die Menschen mochten zwar zulassen, dass man ihnen ihr Land nahm, ihre Frauen verführte und selbst ihre Kinder verzehrte. Doch wenn ihnen zu guter Letzt nichts mehr blieb, dann hatten sie auch nichts mehr zu verlieren. Im Gegensatz zu den Szgany der Sonnseite waren nicht all diese Erdenmenschen Bauern oder Jäger und Sammler. Gewaltige Armeen von Stammeskriegern überrannten die Welt und fegten alles hinweg, was sich ihnen entgegenstellte. Und was nun die Furcht vor den Wamphyri betraf:
Oft wussten diese Invasoren aus dem Osten überhaupt nicht, dass sie es mit Vampiren zu tun hatten; sie massakrierten lediglich reiche dakische Grundherren in deren düsteren Burgen oder irgendwelche haarigen Mischwesen in den Höhlen und Festungen der Gebirgsausläufer. Und
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