Vampirzorn
Handgelenk Blut, noch hatte er Schleim an der Kleidung oder irgendwelche Verletzungen am Hals, und ihm tat auch nichts weh. Dennoch kniete er, auf seinen Schreibtisch – eine greifbare Tatsache – gestützt, zusammengesunken inmitten der Windungen des Telefonkabels und gab sich eine ganze Weile lang einfach damit zufrieden, auf das Pochen des gewaltigen Hammers zu lauschen, der in Wirklichkeit sein Herz war. Und er brauchte noch einmal so lange, bis er wieder auf die Beine gelangte und genügend Kraft aufbrachte, um zu schlucken ...
Dies hatte sich gestern Nachmittag ereignet ... Danach nahm er B. J.’s Rat (dass er vielleicht ebenfalls umziehen sollte) wesentlich ernster und entschloss sich dazu, es auch zu tun. Doch aus lauter Frustration – nämlich darüber, dass er nicht in der Lage war zu begreifen, was derartige Vorkommnisse zu bedeuten hatten – und weil er sich zunehmend über die offenkundige Beeinträchtigung seiner Fähigkeiten, seines Denk- und Erinnerungsvermögens, ärgerte, wohl auch aufgrund seiner angeborenen Sturheit, wollte er noch mindestens eine weitere Nacht zu Hause verbringen. Vielleicht hoffte er, das Telefon würde noch einmal läuten, sodass er dem Ding womöglich – nun, da er wusste, dass es ihm keinen körperlichen Schaden zuzufügen vermochte – entgegentreten oder auch nur etwas von ihm in Erfahrung bringen konnte.
Aber obwohl er den Anrufbeantworter absichtlich nicht einschaltete, wurde sein Schlaf lediglich von Albträumen gestört, an die er sich wie stets beim Erwachen nicht mehr zu erinnern vermochte ... nur eines blieb ihm im Gedächtnis haften, ein Gesicht, ein angsterfülltes Antlitz vor seinem geistigen Auge, das ihn unentwegt anflehte: »H-h-h- hilf miiiiiir! «
Der gelbe Mann oder vielmehr junge Bursche aus seiner Vision! Aber war es wirklich nichts weiter gewesen? Handelte es sich wirklich bloß um einen Wachtraum, einen warnenden Blick in die Zukunft? Um Alec Kyles Talent, das sich nach all der Zeit wieder einmal bemerkbar machte? Irgendwie wollte Harry das nicht glauben, nicht dieses Mal.
Gelbe Männer ... tibetanische Priester beziehungsweise Mönche ... Das Kloster auf der eiserstarrten Hochebene ... Und der Anführer der Kerle in den roten Gewändern, wie er damals in London Fotos von dem Bombenanschlag in der Oxford Street machte ... Und dieselbe Gruppe, zumindest eine, die genauso aussah, im Forest von Atholl.
All dies zusammengenommen ...
... Doch was wusste Harry sonst noch über sie?
Und seine Mutter: Diesmal war sie nicht zu seiner Rettung geeilt und hatte sich auch nicht »eingemischt«. Damals, als sein Telefon sich in einen Wolf verwandelt hatte – ( Gott! Dem Necroscope schwirrte der Kopf! Er konnte nicht glauben, was für Gedanken er da wälzte!) – aber als es sich in einen Wolf verwandelt hatte, war sie wie der Wind zur Stelle gewesen! Weshalb also diesmal nicht? Was, wenn sie es bei diesem Anlass nicht vermocht hatte? Und weshalb konnte er die Toten nicht mehr in ihren Gräbern reden hören? Bisher war dies für Harry so »normal« oder »gewöhnlich« gewesen wie für jeden anderen der Geräuschpegel in einem Raum, in dem sich viele Menschen aufhielten.
Aber wenn er so darüber nachdachte, fand er zumindest dafür eine Erklärung.
Es lag keineswegs an seiner Mutter und auch nicht daran, dass die Große Mehrheit ihn abgeschrieben hätte, sondern vielmehr an Harry selbst. Er war derjenige, der nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollte! Es war diese ... diese verdammte Sache mit ihm, die verhinderte, dass er mit ihnen reden wollte, und es wurde immer schlimmer. Dieses innere Bedürfnis, seine geheimen Talente zu schützen, seine Fähigkeiten als Necroscope und das Möbius-Kontinuum. Er benahm sich wie ein Süchtiger, der verbergen will, dass er süchtig ist, und lernt, sich nicht zu verraten. Keine leichte Sache, wenn man sich des Möbius-Kontinuums bediente; denn ein Beobachter könnte ohne Weiteres mitbekommen, wie er das Kontinuum betrat oder wieder verließ. Im Falle seines Umgangs mit den zahllosen Toten war dies nicht ganz so schwierig, schließlich verkehrte er nur auf metaphysischer, mentaler Ebene mit ihnen, was nach außen nicht sichtbar war. Er hatte einfach Barrieren in seinem Geist errichtet, Abschirmungen, die im Grunde schon immer da waren. Sie allein gestatteten ihm, ein ganz normales Leben zu führen. Nur dass er sie jetzt ständig aufrechterhielt. Ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein – noch nicht einmal jetzt
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