Vampirzorn
Ufer entlang zu der Flussschleife, die seiner Mutter zum Grab geworden war.
Eine ganze Weile stand er bloß schweigend da und blickte auf die sich kräuselnden Wellen.
Gern hätte er sich mit seiner Mutter unterhalten, doch das konnte ... oder wollte er nicht. Natürlich wusste sie Bescheid über das unheimliche Talent ihres Sohnes, und Harry war auch klar, dass sie ihn niemals verraten würde, selbst wenn sie die Möglichkeit dazu hätte – doch es war wieder diese Sache . Es könnte ihn ja jemand beobachten und darauf schließen, was er da tat: nämlich mit den Toten reden.
Es war vollkommen blödsinnig! Wer in aller Welt sollte je auf den Gedanken kommen, dass er etwas Derartiges vermochte? Dennoch schaute Harry sich nach allen Seiten um, flussauf, flussab und hinüber zum anderen Ufer, um festzustellen, ob jemand da wäre. Und hol’s der Teufel, da war tatsächlich jemand! Gut hundertfünfzig Meter flussaufwärts glänzte in der hellen Nachmittagssonne ein Wagen, der auf dem unbefestigten Seitenstreifen der parallel zum Fluss verlaufenden Straße parkte. Am Lenkrad konnte Harry undeutlich eine Gestalt ausmachen, von deren Atem die Fenster beschlugen.
Mit leicht beschleunigtem Herzschlag kehrte er rasch ins Haus zurück, bemüht, mit keiner Bewegung seine Unruhe zu verraten und auch nicht allzu besorgt auszusehen (dabei fragte er sich, wie schnell wohl eine Kugel sein mochte und weshalb überhaupt irgendjemand es darauf abgesehen haben sollte, ihn zu erschießen). Drinnen ging er hinauf ins Schlafzimmer, wo er versuchte, mit dem Fernglas durch einen Schlitz zwischen den Vorhängen zu spähen, nur um frustriert festzustellen, dass seine Atemluft sich an der Fensterscheibe niederschlug.
Also blieb ihm nur eins übrig ...
... ein Möbiussprung auf die verlassene Landstraße, zirka zweihundert Meter hinter den verdächtigen Wagen, wo der Necroscope im Schutz einer Strauchgruppe wieder aus seinem metaphysischen Tor trat. Dort gelang es ihm endlich, vorsichtig über den Laubrand blickend, sein Fernglas auf den Wagen scharfzustellen.
Er gehörte Zahanine, einem von Bonnie Jeans Mädchen! Der hinreißenden Schwarzen mit den ewig langen Beinen! Um ein Haar hätte Harry angefangen zu kichern. Dass er trotz seiner Lage, wie diese auch aussehen mochte, immer noch derartige Gedanken hegte! Er verkniff es sich jedoch, denn der Anblick der jungen Frau, die mittlerweile neben ihrem Wagen stand und ihrerseits ein Fernglas auf sein Haus richtete, rief ihm den Rest seiner Unterhaltung mit Bonnie Jean ins Gedächtnis zurück. Einen Teil davon jedenfalls:
Sie wollte ihm eines ihrer Mädchen nachschicken, damit sie ein Auge auf ihn hatte ... etwa um ihn zu beschützen? Und da war noch etwas, wegen des Mädchens. Irgendetwas, was alle von B. J.’s Mädchen betraf. Etwas, was er sich besser fragen sollte, so viel wusste er, nur leider wusste er nicht, was. Aber das war lächerlich, schließlich waren sie allesamt ebenso unschuldig wie B. J.
... Oder etwa nicht?
Was denn, unschuldig? Und Zahanine ebenfalls? Mit so einem Körper? Und diesmal konnte er sich ein, wenn auch trockenes Kichern nicht verkneifen, während er ein Tor heraufbeschwor und ins Haus zurückkehrte – wo das Telefon in seinem Arbeitszimmer unablässig läutete.
Doch wie lange schon? Sein Anrufbeantworter war nicht eingeschaltet, vielleicht war es ja B. J.! Er stürmte quer durch den Raum und riss den Hörer von der Gabel. Dabei stolperte er und wäre um ein Haar gestürzt, fing sich jedoch und sank neben seinem Schreibtisch auf die Knie.
»Hallo?«, keuchte er atemlos in die Muschel. Er wartete einen Moment, erhielt jedoch keine Antwort. »Ich bin’s, Harry!«
Immer noch keine Antwort, lediglich Schweigen. Beziehungsweise, wenn er genau hinhörte, vernahm er ein leises, irgendwie bedrohlich klingendes Atmen. »Harry Keogh!«, versuchte er, den Anrufer verwundert zu einer Reaktion zu veranlassen, ehe er innehielt und überlegte. Im nächsten Moment kam er, vor seinem Schreibtisch kniend, zu dem Ergebnis: Das ist nicht B. J.!
Aber wer sonst? Seine Nummer stand nicht im Telefonbuch. Nicht dass das irgendetwas zu sagen hatte. Wenn man sie unbedingt in Erfahrung bringen wollte, gab es Mittel und Wege dazu. Aber wenn er schon angerufen wurde, warum dann dieses Schweigen? Aus welchem Grund? Mist, er wünschte, er hätte den Anrufbeantworter angelassen!
Vielleicht hatte der unbekannte Anrufer mitbekommen, wie er überrascht die Luft einsog, denn in der
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