Vampirzorn
war er sich völlig sicher –, hatte er sie wahrscheinlich einfach an Ort und Stelle gelassen und sich so von den Toten abgesondert.
Nach einem späten Frühstück, Kaffee und einer Schale Müsli, unterzog der Necroscope seine Theorie einem Test. Er öffnete seinen Geist und stellte sich instinktiv auf jene ätherische Wellenlänge ein, zu der allein er Zugang hatte. Und indem er sich davon durchströmen ließ, wusste er auf Anhieb, dass er richtig lag. Denn die Große Mehrheit, die flüsternden Toten waren da wie seit eh und je und unterhielten sich aus ihren unbekannten, überall auf der Welt verstreuten Gräbern miteinander. Doch noch ehe sie ihn bemerken oder die Wärme seiner einsamen Flamme, die flackernd ihre ewige Nacht erhellte, spüren konnten, hatte er schon wieder seine Barrieren errichtet, um sie auszuschließen.
Aber weshalb? Weshalb tat er ihnen das an, wo die zahllosen Toten doch die einzigen wirklichen Freunde waren, die Harry je gehabt hatte? Die Antwort lag auf der Hand: Die beste Möglichkeit, ein Geheimnis für alle Zeiten verborgen zu halten, bestand darin, es irgendwo einzuschließen, wo niemand es je entdecken würde. Und dieses Geheimnis lag fest verschlossen im Kopf des Necroscopen, und wenn er den einzigen Schlüssel dazu wegwarf ... würde es auch dort bleiben.
Danach empfand er eine Zeit lang Bedauern, wenn nicht gar Reue, und war sogar ein bisschen überrascht – über sich selbst, darüber, wie bereitwillig er einen Großteil dessen, was in seinem Leben gut gewesen war, einfach so aufgab. Doch ihm war klar, dass er, ganz gleich was er tun mochte, es nicht riskieren durfte, dass irgendjemand etwas über seine Talente herausfand.
Er durfte niemandem davon erzählen und sie niemandem offenbaren und ...
... und sie auch nicht einsetzen? Ja, darauf lief es letztlich wohl hinaus. Und welche Hoffnung blieb ihm dann noch, Brenda und den Kleinen je wiederzufinden? Nicht die geringste, nahm er an. Darum sollte er die Suche nach ihnen vielleicht besser fortsetzen, das heißt wieder persönlich daran teilnehmen, solange er noch dazu in der Lage war. Dies schien ein weiterer guter Grund (und zwar ein stichhaltiger ) zu sein, dass er endlich aus diesem alten Haus kam.
Was nun Bonnie Jeans Gründe anging: Harry hatte keine Ahnung, weshalb sie ihm geraten hatte auszuziehen. Hatte sie Angst vor etwas? Sollte er etwa ebenfalls Angst haben ...?
In diesem Augenblick, gerade als er seinen Teller wegschob und sich erhob, klingelte in seinem Arbeitszimmer das Telefon. Und davor sollte er vielleicht Angst haben. Oder dagegen angehen, was auch immer.
Harry hatte in der Küche gefrühstückt. Beim ersten Läuten stand er nur stocksteif da. Er brauchte einen Moment, seine Erstarrung abzuschütteln und zu überlegen, was zu tun war, und ein paar weitere Sekunden, um in sein Arbeitszimmer zu gelangen. Die ganze Zeit über läutete das Telefon unentwegt.
Und dann ... ertappte Harry sich dabei, wie er, ohne sich weiter Gedanken zu machen, nach dem Hörer griff. Obwohl es am helllichten Tag war, jedenfalls so hell, wie es um diese Jahreszeit nur werden konnte, spürte er, wie sich die Härchen in seinem Nacken aufrichteten und er angesichts des Ungewissen, das ihn erwartete, eine Gänsehaut bekam ...
Diese Empfindung hatte er immer noch, als er Darcy Clarkes Stimme vernahm: »Harry, bist du’s?« Sie klang irgendwie blechern, weil Harry den Hörer einige Zentimeter von seinem Ohr, seinem Gesicht weghielt. Er erkannte den Anrufer nicht gleich, zum Teil weil es schon so lange her war, zum andern weil er ... nun, mit sonst etwas gerechnet hatte!
»Darcy«, entgegnete er, indem er sich auf seinen Stuhl sinken ließ. Vor Erleichterung hätte er beinahe geseufzt. »Schön ... schön , von dir zu hören!« Er hätte nicht gedacht, dass er so etwas je wieder sagen würde. Und er meinte es auch.
Wie stets war Darcy nicht schwer von Begriff. »Harry, ist alles in Ordnung?«
»Wieso?«
»Du klingst so – ich weiß nicht – so angespannt?«
»Ich erwartete einen Anruf von, äh, jemand anderem. Also, was gibt’s?« Er war bemüht, so unbefangen wie möglich zu klingen, zugleich jedoch merkte er, dass er keineswegs der Einzige war, der irgendwie »angespannt« klang. Sein Herz schlug schneller, und mit einem flauen Gefühl im Magen fragte er: »Geht es um Brenda?«
»Brenda?« Es hörte sich an, als läge Darcy nichts ferner – was nach all der Zeit ja auch durchaus der Fall sein konnte. »Ach, Brenda! Nein,
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