Vampirzorn
Grenzstreitigkeiten an der sowjetisch-chinesischen Grenze einsetzen. Er sagt ihnen weder, wo sie sich befindet, noch wer sie gelegt hat, nur dass sie da ist ... und dass es da noch einen armseligen Landstrich im Yak-Gebiet gibt, der eigentlich Mütterchen Russland gehört, und dass ihm sehr viel daran läge, wenn die kleinen gelben Soldaten, bitte sehr, von dort verschwänden.«
»Erpressung?«
»Von der schlimmsten Sorte! Politisch, atomar, hässlich. Aber unsere Lokalisierer haben die Bombe ausfindig gemacht; oder vielmehr, sie wissen so ungefähr, wo sie ist. Und jetzt haben wir Andropow ein Ultimatum gestellt: Er hat zwei Wochen, den Chinesen zu sagen, was er ihnen ohnehin mitteilen muss – er muss einfach –, nämlich wo die Bombe sich befindet, in welcher Stadt, und wo genau. Entweder er sagt es ihnen, oder unsere Regierung wird es tun. Damit ginge ihm jedes Prestige verloren. Nun, all dies unterliegt der Geheimhaltung, was auch sonst, es ist topsecret, und nur berechtigte Personen haben Zugang zu dieser Information. Darum hat Darcy nichts davon erwähnt. Andererseits solltest du Bescheid wissen ...«
Als Harry nichts darauf erwiderte, fügte er hinzu: »Ist sonst noch was?«
Der Necroscope schüttelte den Kopf, lehnte sich wieder zurück und war schon bald tief in Gedanken versunken ...
Er ließ sich seine übrigen Visionen respektive »Heimsuchungen« durch den Kopf gehen.
Nach den verheerenden Auswirkungen der eingebildeten Atomexplosion hatte er versucht, Darcy und Ben zu schildern, was er gesehen, dass er einen flüchtigen Blick auf eine zukünftige Katastrophe erhascht hatte. Vielleicht handelte es sich auch nur um eine versteckte Warnung, dass ein solches Unheil tatsächlich eintreten könnte. All dies fand anscheinend eine Erklärung in dem, was Ben ihm soeben erzählt hatte. Doch der Gedanke an die Zukunft hatte weitere Bilder heraufbeschworen, und erneut hatte sich alles um Harry zu drehen begonnen, und er war weggewirbelt worden an einen anderen Ort oder vielmehr ... zu dem Gesicht eines Unbekannten!
Diese Augen, die so streng blickten und doch zugleich lächelten – aus denen Harry so viel Menschlichkeit und doch auch ein unerklärlicher Mystizismus entgegenstrahlte. Und sie waren direkt auf Harry gerichtet. »Ah, der Sohn meiner Visionen!« , hatte der Mann gesagt, dem das Gesicht gehörte. »Oder bist du in Wirklichkeit der Vater?« (Doch der Vater wovon, etwa der Visionen dieses Mystikers?) »Aber nun fort mit dir, denn soweit ich weiß, ist deine Zeit noch nicht gekommen.«
Die Zeit des Necroscopen noch nicht gekommen? Hieß das etwa, dass sie bald kommen würde? Aber welche Zeit?
Harry sann lange darüber nach, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen außer zu dem, dass der Mystiker keinesfalls eine Bedrohung dargestellt hatte. Wenn überhaupt, dann schien er Schutz zu bieten vor einem noch unbekannten Sturm ...
Und dann die letzte Erscheinung oder besser: Visitation, denn Harry war in der Tat an einen anderen Ort versetzt worden:
An eine Kreuzung, auf deren einer Seite eine niedrige Mauer die weitgehend sich selbst überlassenen Gräber und schiefen Grabsteine eines alten Friedhofs verdeckte. Auf der anderen Seite zeigte ein Wegweiser die Richtung nach Meersburg an ...
Nichts davon ergab einen Sinn oder hatte für den Necroscopen irgendeine Bedeutung (er hatte noch nie von Meersburg gehört), noch erschien es ihm irgendwie bedrohlich; immerhin waren Friedhöfe und von Flechten überzogene Grabsteine für ihn ein vertrauter Anblick und flößten ihm keineswegs Angst ein. Doch war dieser letzte flüchtige Blick das Ende von Alec Kyles Talent, sozusagen ein letztes Aufbäumen. Nun war es verschwunden, für immer aus Harry herausgebrannt. Doch gerade weil es sich um ein letztes Aufbäumen handelte, hatte es doch gewiss etwas ... zu bedeuten?
»Harry?« Das war Ben Trasks Stimme. Harry blickte auf und schüttelte den Kopf, um ihn wieder klarzubekommen. Bin ich etwa auch eingeschlafen? , fragte er sich.
Darcy Clarke war dabei, sich zu strecken. Er gähnte. Ben schaute die beiden im Rückspiegel an. »In vier, fünf Minuten sind wir da.« Damit schaltete er das Funkgerät an, stellte es auf den Polizeifunk ein, nahm den Hörer auf und identifizierte sich.
»Ooaah!«, machte er. »Die Hexen von Greenham formieren sich – die haben ja keine Ahnung!«
»Gibt es Schwierigkeiten?« Augenblicklich war Darcy hellwach.
»Eigentlich nicht! Nur ein paar großkopferte Atomkraftgegner und die
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