Vampirzorn
wahrhaben), was sie gewesen war. Alles, was er wusste, war, dass sie nun ein einsames, verängstigtes totes Wesen war, dem man das Leben genommen hatte.
Und er hatte recht. Ihr Wimmern drang zu ihm, und mit einem Mal hatte er das Gefühl, von geisterhaften Armen umschlungen zu sein, so als dränge sich jemand an ihn wie das Mädchen mit den Schwefelhölzern an das Feuer, das es aus seinen eigenen wertlosen Streichhölzern entzündet hatte, um ein letztes bisschen Wärme daraus zu ziehen. Doch er empfand keine Angst, nicht vor dem Mädchen. Das war schließlich seine Bestimmung, dies hatte er schon immer getan; und bis auf seinen Sohn gab es niemanden sonst, der dies zu tun vermochte. Er war das Leben, und das wusste sie; dies wiederum ließ sie an ihr eigenes Leben denken und daran, wie es geendet hatte. Und der Necroscope bekam alles mit:
Dieses gelbe Gesicht mit den schräg stehenden Augen, die sie lüstern anstarrten, und das Glied in ihr, das sich so kalt anfühlte. Dann weiteten diese Augen sich plötzlich, und der Ausdruck auf dem Gesicht veränderte sich, als sie mit bebenden Händen danach langte. Sie spürte Haut unter ihren Fingernägeln und kratzte, und als sie die Hände wegnahm, blieben zehn blutige Streifen zurück!
Und dann diese endlose Finsternis, zu der Harry sie erweckt hatte, sodass Zahanine nun Gewissheit hatte. Nun wusste sie ohne jeden Zweifel, dass sie ...
... Nein! Das wollte der Necroscope jetzt wirklich nicht hören, nicht den gequälten Aufschrei, den er schon so oft gehört hatte, die Weigerung anzuerkennen ... Er ließ seine geistige Abschirmung herab, mit aller Gewalt, so schnell, dass er ins Wanken geriet und rückwärts auf steif gefrorenen Beinen von dem halb im Schnee begrabenen Wagen wegstolperte.
Er hatte gesehen, was er sehen musste, nämlich wer sie umgebracht hatte, und jetzt wollte er nur noch eins: weg von hier ...
Im Londoner Hafenviertel, in dem leer stehenden Lagerhaus mit der auf den Fluss hinausragenden Laderampe, in dem Dr. James Anderson die letzte entsetzliche Woche seines Lebens bis zu seinem langsamen, qualvollen Tod verbracht hatte, war es immer noch 8.50 Uhr am Vormittag. Doch nun waren seine Qualen vorüber, und die Vampire, die ihn gefoltert hatten, standen vor einem Rätsel.
»Das hättet ihr mir überlassen sollen«, erklärte der Francezci seinen Knechten, Jimmy Nicosia und Frank Potenza. »Dachtet ihr etwa, Vincent hätte hier immer noch das Sagen? Glaubt ihr, ihr gehört zur Mafia? Ihr gehört mir, mir und Antonio! Ihr gehört zu den Francezcis! Und so etwas ... ist ganz gewiss nicht unser Stil.« Mit finsterem Blick betrachtete er kopfschüttelnd die Schweinerei, die einmal ein Mensch gewesen war. »Ihr habt euch aufgeführt wie Metzger. Und, schlimmer noch, es war sinnlos. Ihr habt nicht das Geringste aus ihm herausbekommen.«
»Äh, etwas schon! Etwas haben wir, Francesco.« Jimmy Nicosia war bemüht, nicht allzu unterwürfig zu klingen. »Außerdem blieb uns gar keine andere Wahl! Wir konnten ja schlecht vierundzwanzig Stunden am Tag hierbleiben, jedenfalls nicht, wenn wir gleichzeitig noch ein Auge auf die Leute vom E-Dezernat haben sollen. Das allein ist schon schwierig genug. Man verfolgt diese Kerle – und wenn man ein paar von ihnen zu lange anstarrt, drehen sie sich irgendwann um und blicken einem direkt ins Gesicht! Diese Leute sind anders, Francesco! Mit denen legt man sich besser nicht an!«
»Es gibt niemanden, mit dem ich mich nicht anlegen könnte!«, knurrte der Francezci. »Aber ... ich verstehe, was du sagen möchtest. Ähnliches habe ich auch zuvor schon gehört, und zwar von Leuten, die es wissen müssen! Deshalb wählten wir ja diesen Anderson aus.« Erneut maß er die Überreste des Mannes mit einem kurzen Blick. »Er gehört ... gehörte nicht zu ihrer Organisation, sie bedienten sich seiner lediglich hin und wieder.«
»Jetzt nicht mehr«, flüsterte Frank Potenza mit seinem breiten, gefühllosen Grinsen, das trotz allem irgendwie mädchenhaft wirkte. Das Missfallen des Francezci prallte einfach an ihm ab.
Francesco bedachte ihn mit einem düsteren Blick, wusste jedoch, dass das mehr als nutzlos war. Trotz seines androgynen Wesens (oder vielleicht auch gerade deswegen) war Potenza bloß ein hirnloser Muskelprotz und irgendwie sonderlich. Er konnte einen Menschen ohne Weiteres in Scheiben schneiden, hatte aber nicht die geringste Ahnung, wie man jemandem auf subtile Art wirkliche Angst einjagte. Darum war es sinnlos, ihn
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