Vampirzorn
versicherte sie ihm. Nichts in dieser Art! Wenn sie unter uns wären, wüssten wir es mittlerweile, glaub’ mir. Wir halten nur, nun ja, die Ohren offen, mehr nicht ...
Der Necroscope atmete auf ... Dennoch blieb der Eindruck, dass dieses Gespräch nur eines zeigte – nämlich dass er es gar nicht führen sollte. Seine unheimlichen Talente schienen ihn in nur immer größere Unruhe zu versetzen; jedes Mal, wenn er sie einsetzte oder sie auch nur zuließ, schien er sich in einem regelrechten Dickicht zu verfangen. »Ma«, sagte er verzweifelt, »bitte, lass uns jetzt Schluss machen ...« Immerhin war sie seine Mutter, und er konnte doch nicht so einfach mir nichts, dir nichts seine Abschirmung errichten und sie aussperren.
Harry? , meldete sich nun eine andere, wesentlich strengere Stimme zu Wort. Harry kannte sie mindestens ebenso gut wie diejenige seiner Mutter. Es handelte sich um Sir Keenan Gormley, einstmals Leiter des E-Dezernats. Und wieder war der Necroscope hin- und hergerissen, doch hatte er genügend Respekt vor den Toten, dass er sie nicht einfach ignorieren oder sich von ihnen abwenden konnte.
Sir Keenan war dies selbstverständlich klar, denn für die Toten waren Harrys Gedanken ebenso gut wie das gesprochene Wort. Harry, sagte er, was für ein Problem du auch immer hast, es muss ja ziemlich tief sitzen. Ich meine, wer außer den Toten sollte denn je mitbekommen, dass du der Necroscope bist? Und wer von den zahllosen Toten würde dich, selbst wenn es überhaupt möglich wäre, je verraten? Gut, du willst nicht, dass irgendjemand vom Möbius-Kontinuum erfährt und davon, dass du dich seiner bedienst. Das versteht sich wohl beinahe von selbst – immerhin könnten die Lebenden Kapital daraus schlagen. Aber deine Fähigkeit, dich mit der Großen Mehrheit zu unterhalten? Dieses nahezu einzigartige Talent? Wer unter den Lebenden sollte dir das denn glauben, selbst wenn du es ihnen erzählen würdest? Für mich klingt das nach einer Zwangsvorstellung, nach einer Art Aversion, vielleicht eine seltsame Allergie. Aber wenn dem so ist, dann muss es irgendwann angefangen haben. Warum versuchst du nicht herauszufinden, wann das Ganze begann?
»Sie haben recht.« Harry erkannte die Logik darin. »Es könnte durchaus sein, dass ich eine Allergie gegen ... gegen mich selbst entwickle! Und gegen das, was ich tue. Aber wenn das zutreffen sollte, können mir weder Pillen noch ein Psychiater helfen. Mein Problem ist so gelagert, dass ich es unmöglich jemandem beschreiben könnte. Und selbst wenn, stellen Sie sich doch mal vor, ich gehe zum Psychiater und erzähle ihm, dass ich es nicht mehr über mich bringen kann, mit den Toten zu reden. Der würde mich doch sofort einweisen lassen, Keenan! Und vielleicht ... vielleicht gehöre ich ja auch ins Irrenhaus.«
Red’ nicht so einen Unsinn, Harry! , meinte Sir Keenan erzürnt. Was denn, Harry Keogh ein Schwarzseher, der die Flinte ins Korn wirft? Ha! Das glaube ich nicht. Aber vielleicht hast du ja recht und du musst allein damit fertig werden, ohne fremde Hilfe. In diesem Fall solltest du dir das Ganze noch einmal durch den Kopf gehen lassen und versuchen, dich daran zu erinnern, wann alles begann. Den Versuch ist es doch sicherlich wert, oder? Alles in deinem Leben scheint doch irgendwie damit zusammenzuhängen und wird regelrecht davon beherrscht. Es entfremdet dich von deinen eigenen Fähigkeiten – und selbst von den Toten ...
Nun war es heraus. Nicht nur die Mutter des Necroscopen, sondern die ganzen zahllosen Toten schienen sein Problem zu kennen. In gewisser Weise war dies sogar beruhigend – zu wissen, dass sie da waren wie eh und je und auf seiner Seite standen. Andererseits war es auch wieder beängstigend, dass anscheinend jeder über das, was Harry geheim halten wollte, Bescheid wusste. Das Ganze zog Kreise, und Harry war regelrecht schwindlig davon.
Sir Keenan spürte, wie furchtbar durcheinander Harry war, und überlegte verzweifelt, wie er ihm helfen könnte. Und aus heiterem Himmel fiel ihm eine Lösung ein.
Harry, mein Junge! , sagte er, mit einem Mal sehr aufgeregt. Warum bin ich nicht früher darauf gekommen? Das ist es! Du kannst es doch tun! Du kannst einen Psychiater aufsuchen!
»Was?« Der Necroscope war wie vor den Kopf gestoßen. Hörte ihm denn überhaupt niemand mehr zu? »Habe ich nicht eben erklärt, dass ich ...«
... Du kannst zu jemandem gehen, der bereits über deine Probleme Bescheid weiß, schnitt Sir Keenan ihm das Wort ab.
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