Vampirzorn
die Hand nach dem Gerät aus und wäre dabei um ein Haar aus dem Bett gefallen. Er war noch ganz benommen. Er hatte nur eine Stunde geschlafen, und auch dies lediglich, um die Zeit totzuschlagen, bis B. J. anrief. Sofern sie dies überhaupt vorhatte.
Und nun? Vielleicht war sie es? Er packte den Apparat, doch zu spät. Der Anrufbeantworter schaltete ab. Schwer atmend setzte er sich auf und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Wie spät war es eigentlich? Schon fast zehn. Er hatte geträumt, oder nicht? Und dann hatte das Telefon geklingelt.
Er hörte die Aufzeichnung ab.
»Harry, mein Geliebter! Ruf’ mich bitte zurück, ja?« B. J.’s rauchige Stimme, die aus dem Anrufbeantworter erklang, hatte eine sonderbare Wirkung auf ihn: Einerseits überlief ihn ein Schauder, als wie aus dem Nichts (tatsächlich aus den tiefsten Kammern seines Geistes) plötzlich ein klagendes Heulen erscholl, während sich im hellen Glanz des Vollmonds deutlich der Umriss eines Wolfsschädels abzeichnete, dessen Kehle mit dem Auf- und Abschwellen des Gesangs pulsierte. Andererseits wurde ihm mit einem Mal klar, wie sehr er B. J. begehrte. Er brauchte sie und konnte nichts dagegen tun, vermochte sich nicht dagegen zu wehren. Außerdem hatte er sie jetzt seit über einer Woche nicht mehr gesehen.
Das Geheul verklang, schwand wie der Traum (den er doch eigentlich im Gedächtnis behalten wollte), und das Einzige, was zurückblieb, war das Wissen darum, dass B. J. angerufen und er ihren Anruf verpasst hatte. Er vermisste sie so sehr, und dies nun schon seit sechs oder sieben Tagen. Viel zu lange.
Er blinzelte, rieb sich die Augen und zwang sich dazu, völlig wach zu werden. Was ihm nicht leichtfiel. Ihm schwirrte der Kopf vor verschwommenen Erinnerungen an Traumbilder und Fantastereien – Hirngespinste? Beinahe so, als sei er noch gar nicht richtig erwacht. Oder als wünschte er sich wieder in den Schlaf zurück.
Sechs oder sieben Tage ...
Nun, dass sie während der letzten paar Tage nicht da sein würde, war zu erwarten gewesen: Es war wieder die Zeit, die sie üblicherweise in den Highlands verbrachte, wo sie jagte und sich von dem ernährte, was die Umgebung hergab. Was, selbst bei diesem Wetter? ... Doch darüber machte sich der Necroscope keine Gedanken. Dies war eines der vielen Dinge, die ihm zwar von Zeit zu Zeit auffielen, die er aber nicht infrage stellen durfte. Sein Geist schaltete dann jedes Mal einfach ab; denn so lange B. J. ihm nichts anderes sagte, war sie eben »unschuldig«. Und selbst in diesen Augenblicken war Harry, obwohl er tief im Innern ahnte, wer beziehungsweise was sie in Wirklichkeit war, ihr voll und ganz verfallen und bis über beide Ohren in sie verliebt, völlig betört von ihr.
Ihn schauderte, denn im tiefsten Innern war ihm durchaus klar, was sich hinter der Maske befand, und dennoch verzauberte ihn ihre Stimme – selbst wenn sie vom Band kam – und ihre Gegenwart versetzte ihn in Erregung. Denn er war nicht nur körperlich, sondern auch geistig von ihr abhängig und sehnte sich nach ihrem Körper, ihrer Gesellschaft. Schließlich war sie alles, was er hatte.
... Ganz recht, alles, was er hatte!
Es stimmte, und der Necroscope kam nicht umhin einzuräumen, dass er sich anscheinend von allen abgesondert hatte. Schon seit geraumer Zeit hatte er keinen Kontakt mehr zu seinen Freunden beim E-Dezernat – seinen einzigen wirklichen, noch lebenden Freunden. Er hatte sich von der Welt entfremdet und selbst die Toten, seine geliebte Mutter eingeschlossen, vernachlässigt.
Flüchtig kehrte ihm ein Bruchstück seines Traumes ins Gedächtnis zurück – nur um sich im nächsten Augenblick in nichts aufzulösen.
Und was Brenda anging ... doch wer war schon Brenda? Sie war schon so lange verschwunden, dass er sich nur noch undeutlich an ihr Gesicht erinnerte. Harry sah sie so vor sich, wie er sie einst gesehen hatte – als junges Mädchen, seine Jugendliebe. Und der Kleine, Harry Junior ... musste mittlerweile vier Jahre alt sein! Wahrscheinlich konnte er bereits laufen und sprechen und machte ... alles Mögliche! Allerdings wohl kaum das, was andere Kinder so anstellten. Denn nicht anders als sein Vater war auch er ein Necroscope. Er vermochte mit den Toten zu reden und kannte jedes Geheimnis des Möbius-Kontinuums.
»Er kann sich an jeden beliebigen Ort begeben, an den er möchte«, sagte der Necroscope zu sich selbst. »Sie könnten sich ... überall verbergen!« Beziehungsweise sich überall aufhalten,
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