Vampirzorn
Dutzend weiterer Totenstimmen, die Harry bislang noch gar nicht wahrgenommen hatte, erhob sich zustimmendes Gemurmel. Ja, fuhr der Sergeant fort, unsere Hellseher erzählen uns, dass Harry weiterleben wird. Aber wir reden hier über die Zukunft, und das ist keine exakte Wissenschaft. Wer kann schon vorhersagen, was morgen sein wird? Wer möchte dieses Risiko eingehen? Harry wird also am Leben bleiben, nicht wahr? Aber als wer beziehungsweise was? Als er selbst ... oder etwas anderes?
Mary Keogh wusste, was der Sergeant für Harry empfand. Immerhin war auch er in der Vergangenheit bereits zu Harrys Rettung geeilt – was ein jeder von ihnen tun würde, vorausgesetzt, es ergab sich eine Gelegenheit dazu. Darum ließ sie sich von seinem Ausbruch auch nicht beirren, sondern sagte lediglich ganz ruhig Aber, aber! und meinte, zu den Übrigen gewandt: Also, was soll ich eurer Meinung nach tun? Was würdet ihr tun, wenn ihr ihm nahestündet? Welchen Rat würdet ihr ihm geben?
Wir würden ihm schlicht und einfach die Wahrheit sagen, erwiderte Sir Keenan, und ihn fragen, weshalb er denn nicht von selbst dahintergekommen ist! Ich meine, uns ist doch klar , dass er sich wieder mal in Schwierigkeiten befindet; es sind Wesen in unsere Welt gelangt, die nicht menschlich sind, Wesen, die einst Menschen waren , aber eine Verwandlung durchliefen und nun zwischen Leben und Tod existieren. Und selbst im wahren Tod sind sie immer noch bösartig. Darum sind sie geächtet, und die Große Mehrheit hält sich von ihnen fern. Der Necroscope ... schickte sie hierher – aber das können wir ihm kaum zum Vorwurf machen. Sie sind ein Pestgeschwür, das aus der Welt entfernt werden musste, in der unsere Kinder und alle, die wir lieben, noch leben.
Sie würden ihm also die Wahrheit sagen, meinte Harrys Mutter geduldig. Und wie würden Sie das anstellen? »Harry, wir wissen, dass es noch immer böse Kreaturen in deiner Welt gibt, schließlich schickst du ja ständig welche zu uns. Darum sag’ uns doch bitte: Weshalb hast du dich denn mit einer von ihnen zusammengetan? Noch dazu nicht bloß mit einer Vampirin, Harry, sie ist auch noch eine Werwölfin!« Würden Sie es ihm so sagen?
Ja, so in etwa, antwortete Sir Keenan vorsichtig.
Jetzt hören Sie mir mal zu, entgegnete sie, ihr alle! Mein Sohn bedeutet für sich selbst eine ebenso große Gefahr wie die für ihn. Es ist schon eine ganze Weile her, dass er mit mir – oder sonst irgendjemandem von uns – gesprochen hat. Aber beim letzten Mal fragte er mich, ob ich glaube, dass er verrückt wird. Er dachte, er habe ein Alkoholproblem. Nicht dass er etwas dafür könnte, er hätte es durch seinen neuen Körper quasi geerbt. Außerdem glaubte er, etwas von Alec Kyles Talent sei auf ihn übergegangen. Er wurde von seltsamen Träumen heimgesucht, Albträumen im wahrsten Sinne des Wortes. Und selbst im Wachzustand, sogar während er mit mir sprach, hatte er merkwürdige Visionen, die nichts Gutes verhießen, dessen bin ich mir sicher. Und er verstand sie auch nicht, ebenso wenig wie ich, dabei war ich im Leben doch ein Medium! Aber ebendeshalb , und auch weil er mein Sohn ist, begriff ich weit mehr als er. Aus seinen Worten hörte ich weit mehr heraus, als er mir sagen wollte. Und da wurde mir klar, dass er nicht die geringste Ahnung davon hat, was mit ihm los ist. Sie hielt inne, um ihre Gedanken zu ordnen, und fuhr dann fort:
Darum spionierte ich ihm nach, bei Tag und Nacht, um herauszufinden, was mit ihm nicht stimmte. Und ich entdeckte viel mehr, als ich erwartet hatte. Diese Kreatur, die ihn in ihren Fängen hält, diese Bonnie Jean, ist dafür verantwortlich, dass er in zwei unterschiedlichen Welten lebt und sein Geist gespalten ist. In einer dieser Welten weiß er ganz genau, was sie ist, und ist entsetzt darüber! Dennoch steht er unter ihrem Bann und ist ihr verfallen – aber nein, Gott sei Dank nicht als Vampirknecht! Und in der anderen, nun, da ist er ihr ebenfalls verfallen, nur eben ... anders . Wer von euch jemals bis über beide Ohren verliebt war, wird das sicher verstehen. Kompliziert? Oh, das ist bei Weitem noch nicht alles. Seht ihr denn nicht, was aus ihm geworden ist? Er ist vollkommen hin- und hergerissen, im wahrsten Sinne des Wortes eine gespaltene Persönlichkeit!
Doch schon vor B. J. steckte er bis zum Hals in Problemen. Stellt euch doch vor, sein Geist im Körper eines anderen Mannes! Von Frau und Kind verlassen! Sie waren vor ihm geflohen, an einen Ort, wo nicht einmal
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