Vampirzorn
mit dem er den Hörer auflegte ...
Während B. J. die Stadt hinter sich ließ und über die einsamen Landstraßen Richtung Westen fuhr, um zu Harry zu gelangen, dachte sie: So langsam fängt er also an, etwas zu merken. Er fragt sich, was mit ihm los ist und gibt freimütig zu, dass er sich völlig fertig fühlt. Und das stimmt ja auch, und zwar wegen mir. Aber wenigstens hat er etwas, jemanden, an den er glauben und an dem er sich festhalten kann – auch wenn das bloß ich bin! Und was habe ich?
Sie schrie auf, als durchführe sie ein stechender Schmerz: Oh, Harry, mein Geliebter! Glaub’ mir, du kannst von Glück sagen, dass du von nichts eine Ahnung hast! Es ist viel schlimmer zu wissen, was vor sich geht, ohne dass man irgendetwas dagegen tun kann. Ha! Und du glaubst, du wärst fertig?
Es stimmte, sie war völlig am Ende. Was sie mit Harry angestellt hatte, war ihr umgekehrt ebenfalls passiert. Auf andere Art zwar, doch letztlich lief es auf das Gleiche hinaus. Noch vor gar nicht allzu langer Zeit war er nur eine winzige Unbekannte in einer riesigen Gleichung gewesen, ein kleines Rädchen in einem gigantischen Getriebe. Jetzt dagegen war er ein riesiger Schraubenschlüssel, der alles zum Stillstand bringen konnte, die eine Ziffer, die verhinderte, dass die Rechnung aufging. Harrys Geist war wie ein Computer, und sie hatte ihn mit einem Virus infiziert. Eigentlich mit zwei Viren. Der eine war eine Lüge, der andere die Liebe zu ihr. Sie hatte Harry benutzt und zu ihrem ganz persönlichen Spielzeug gemacht. Doch der Liebes-Virus hatte sich als ansteckend erwiesen und sie ebenfalls infiziert. Harry Keogh, ihr Geliebter? Nicht länger, nun für geraume Zeit nicht mehr.
»Mein Geliebter« waren die Worte, mit denen sie die in Harry eingepflanzten posthypnotischen Befehle aktivierte und seinen Geist umzuschalten pflegte. Wenn sie seinen Geist damit öffnete, vermochte sie ihm alles zu befehlen, was sie wollte, und ehe sie ihn wieder schloss, konnte sie alle Informationen, die sie für unpassend hielt oder an die er sich nicht mehr erinnern sollte, aus seinem Gedächtnis löschen. Aber mittlerweile dienten diese Worte nicht nur als Auslöser, sondern entwickelten sich auch zu einem Kosenamen und büßten so einiges von ihrer Wirksamkeit ein. Also musste B. J. den Auslöser wieder verstärken, um seinet- ebenso wie um ihretwillen, ehe seine beiden Hälften aufeinandertrafen und einander gegenseitig zerstörten.
Ihr Gebieter, Radu Lykan, hatte B. J. einmal gesagt, in der Stunde seiner Auferstehung brauche er einen starken Mann, keinen Säufer. Damals hatte sie Harry mit einem uralten, schnell abhängig machenden Wein versorgt, um seinen Widerstand zu brechen. Des Weiteren hatte der Hunde-Lord sie darauf hingewiesen, dass es andere Wege gab, sich einen Mann gefügig zu machen, als durch Drogen. Damit hatte er auf ihren Körper angespielt, die Waffen einer Frau, die sie nach immerhin zweihundert Jahren sehr gut einzusetzen verstand.
Doch Liebe und Sex sind eine zweischneidige Angelegenheit, und auch Harry Keogh war auf seine Art so etwas wie ein Betörer. Es schien nun immer wahrscheinlicher, dass er in der Tat der Mann aus Radus Träumen war, in denen der Hunde-Lord wieder aus seinem harzgefüllten Bottich auferstand. Schön und gut ... würde B. J. Harry nicht für sich selbst wollen.
Doch sie wollte ihn nun einmal. Allerdings war das ... nicht so einfach; das Ganze war äußerst verzwickt; B. J. war tatsächlich am Ende.
Ohne die ständigen Übergriffe der Ferenczys und die jüngste Kriegserklärung vonseiten der Drakuls (sofern jene rot gewandeten tibetanischen Vampire nicht aus freien Stücken zu dieser späten und schwierigen Stunde auf dem Schauplatz aufgetaucht waren) wäre vieles einfacher und B. J.’s Entscheidung nicht so schicksalsschwer ...
(Ihre Entscheidung? Als ob sie eine Wahl hätte zwischen Radus Auferstehung und Harrys Weiterleben! Allein so etwas überhaupt in Betracht zu ziehen, war schierer Wahnsinn! Und doch dachte sie darüber nach! Oh ja, sie war wirklich mit ihrem Latein am Ende!)
... Aber wenigstens hatte ihr Feind sich ihnen nun gezeigt, und B. J. war sich ihrer Schwäche bewusst geworden. Denn sie mochte zwar eine Werwölfin sein, doch gemessen an den Maßstäben der Wamphyri war sie noch lange keine Kriegerin. Und was Harry Keogh betraf: Er schien ein fähiger Krieger und Taktiker zu sein – oder war er bloß ein unbesonnener Irrer? –, aber letztlich blieb er eben doch nur ein
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