Vampirzorn
Wetter bei der Beisetzung vollkommen passend – eine feuchte, stürmische Brise, die vom Tyrrhenischen Meer her wehte und an den Schleiern der Frauen zerrte, im einen Augenblick ihre bleichen, traurigen Gesichter hinter dem schwarzen Netzstoff verbarg, um sie im nächsten Moment deutlich hervortreten zu lassen. Zwar störte Julio Sclafanis Schmerz – seine Anfälle mitleiderregenden, aber völlig verzeihlichen Wehklagens, bei denen er die verschwitzten Hände rang – des Öfteren die Trauerfeier, vermochte sie aber nicht zu unterbrechen. Bislang war die Beerdigung seiner Tochter glatt verlaufen, ganz wie geplant. Alles war bis ins kleinste Detail perfekt organisiert.
Vielleicht war dies ja nur zu erwarten – in der Gesellschaft solch angesehener Trauergäste, an einem solchen Ort, noch dazu da die Gebrüder Francezci persönlich für die Vorbereitungen verantwortlich waren. Aus reiner Notwendigkeit, nämlich um unerwünschte Komplikationen zu vermeiden, hatten sich die Brüder für eine ganz schlichte Feier entschieden. Und so weit hatte es auch keine Schwierigkeiten gegeben.
Erst am Ende, als die hageren Träger der Francezcis in Frack und schwarz umflorten Zylindern den Sarg der jungen, hübschen und nun so tragisch dahingeschiedenen Julietta aufnahmen, um sie vom Innenhof in die düsteren Schatten der Stätte zu tragen – erst da verlor ihr Vater, Julio, völlig die Kontrolle.
»Ich muss sie sehen!«, schrie er, indem er loswankte, sich durch die firnisüberzogenen Zedernholztüren ins Herrenhaus zwängte und den Sargträgern den Weg verstellte. »Ich muss! «, bettelte er. »Im ganzen letzten Jahr habe ich sie bloß ein einziges Mal gesehen! Ich muss sie noch einmal sehen, ein letztes Mal! Oh Gott! Ihre Mutter, Gott hab’ sie selig, würde es mir nie verzeihen, wenn ich sie begraben lasse, ohne sie noch einmal gesehen zu haben!«
»Julio!« Die Francezcis waren sofort bei ihm, jeder der beiden hielt ihn an einem Arm fest. Die übrigen Trauergäste waren draußen geblieben, und nun wurden die Türflügel geschlossen. »Julio, Julio!«, sagte Antonio Francezci erneut, indem er seufzend den Kopf schüttelte. »Bitte glaub’ mir, wir wissen, wie schwer es für dich sein muss, wie schwer es für dich ist. In diesen – was, sind es schon vier Jahre? Wie doch die Zeit vergeht! – ist Julietta wie eine kleine Schwester für uns geworden. He, sieh dir Francesco doch einmal an! Wie abgemagert, wie traurig er ist! Niemandem lag sie mehr am Herzen!«
»Aber ...« Julio wandte sich ihm zu, klammerte sich an ihn, fett, schwach und zitternd, gegen den schlanken Tonio und dessen unerbittliche Kraft.
» Aber ... Du befindest dich hier in der Manse Madonie!« Francesco Francezcis Stimme klang mit einem Mal härter. Julio blickte ihn aus tränenverhangenen, rot geränderten Augen an. »Dieser Ort ist, was er ist«, fuhr Francesco fort, nun jedoch in sanfterem Tonfall, »und zwar schon seit Generationen – ein Herrenhaus, Julio, und kein öffentlicher Ort! Und deine Julietta ist quasi eine von uns geworden, man könnte sogar sagen, sie gehörte zur ... Familie. Damit gehörst auch du zur Verwandtschaft. Da dem nun mal so ist, mach’ es doch bitte nicht schwerer, als es ohnehin bereits für uns ist.«
»Aber ich will sie doch nur noch einmal sehen. Nur noch ein letztes Mal! Warum denn nicht? Ich bitte Euch! Bevor sie in die Gruft gebettet wird?«
Die Brüder sahen ihn an, dann tauschten sie einen Blick aus und kamen in stillschweigendem Einverständnis zu einem Entschluss. Als Sclafani losließ, nickten sie den sechs geduldig abwartenden Sargträgern lautlos zu.
»Auf die lange Tafel dort drüben«, befahl Toni. »Aber sachte, seid vorsichtig. Ihr dürft sie nicht ... stören.«
Der große Saal war entsprechend ruhig und voller Schatten. In der Düsternis waren die Wände mit ihren Nischen und Türbögen, die in die angrenzenden Räume führten, die Treppen, das Inventar, die Möbelstücke und Wandbehänge kaum auszumachen. Sofern Julio Sclafani dies überhaupt auffiel, fand er es allenfalls passend. Ihm war völlig entfallen, dass bei den zwei, drei Gelegenheiten, da sie ihn eingeladen hatten, Julietta zu besuchen, die Manse Madonie stets im Dunkeln gelegen hatte. Er konnte nicht wissen, dass dies immer so war, und ahnte auch nicht, weshalb noch nicht einmal der kleinste Sonnenstrahl hier hereingelassen wurde. Selbst das trübe Licht des sizilianischen Winters wurde von schweren, verstaubten Vorhängen
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