Vampirzorn
abgehalten ...
Als sich der von einem Tuch bedeckte Sarg auf die polierte Tischplatte senkte, gab Julio einen erstickten Schrei von sich und stolperte vorwärts. Sofort versperrten die beiden Brüder ihm den Weg und packten ihn erneut an den Armen. »Wir ... wir gingen davon aus, dass du sie noch einmal sehen willst«, erklärte Toni. »Darum ist in dem Sarg eine Glasscheibe angebracht. Aber, Julio, du weißt, unter welchen Umständen sie umgekommen ist ...«
»Ja, eine auszehrende Krankheit«, stöhnte der dicke Mann. »Eine ... wie sagten Sie gleich? Perniziöse Anämie. ›Perniziös‹ – ›bösartig‹, in der Tat! Oder viel eher eine schreckliche, furchtbare, todbringende Anämie! Ihr Leibarzt, der Beste seines Faches, konnte nichts tun.«
»Das stimmt«, nickte Toni. »Und das heißt auch ... nun ja, sie ist nicht mehr die Julietta, die du kanntest. Diese Sache – es war wie ein Krebsgeschwür. Es hat sie regelrecht aufgefressen. Sie hat einen eigenartigen Geruch an sich, der sich nicht kaschieren lässt. Und Julietta darf weder berührt noch geküsst werden. Darum die Scheibe.«
»Aber ... ich werde sie doch wiedererkennen?«
»Selbstverständlich! Wir wollten lediglich, dass du sie so in Erinnerung behältst, wie sie war.«
»Ich muss sie trotzdem sehen!«
»So sei es«, sagten die Brüder und ließen ihn los.
Sclafani watschelte ans Kopfende des Sarges, schlug die grauseidene Decke zurück und blickte hinab auf das Gesicht unter der Scheibe. Es war nur undeutlich wahrzunehmen, denn das Glas war von einer dünnen Staubschicht bedeckt, die die bleichen Züge unkenntlich machte. Schluchzend klammerte Sclafani sich an die Tischkante, um nicht den Halt zu verlieren, und blinzelte aus verquollenen Augen, um besser zu sehen. Als die Francezcis schweigend neben ihn traten, schienen die Züge seiner geliebten Julietta vor ihm zu verschwimmen. Da er nicht sehr groß war, befand sein Gesicht sich fast auf einer Höhe mit dem ihren; gegen ihn waren die Gebrüder Francezci baumlang und überschatteten sowohl ihn als auch Julietta.
Dennoch vermochte Julio seine Tochter nun ziemlich deutlich zu sehen. Und obwohl ihre Augen geschlossen waren, schien sie ...
»... Sie lächelt ja!«, kam es ihm bebend über die Lippen.
»Die Schmerzmittel«, murmelte Francesco. »Zum Schluss hatte sie ... oh, nur noch Schmerzen. Zum Glück konnten wir es ihr leicht machen. Aber bevor sie ihr Leben aushauchte, sprach Julietta von dir und ... lächelte! Oh ja, sie starb mit einem sanften Lächeln auf den Lippen, Julio, weil sie an dich dachte!«
Sclafanis Augen hatten sich an die Düsternis angepasst, und er nahm seine Umgebung nun deutlicher wahr. Doch, ehrlich gesagt, gefiel ihm nicht ganz, was er sah. »An mich? Aber ... das ist doch eher eine Grimasse als ein Lächeln!«
»Die Schmerzen«, sagte Francesco erneut. »Trotz der Medikamente hatte sie ...« Er verstummte. »Aber sie verbarg es gut.«
Sclafani küsste die Scheibe über ihren Lippen; seine Tränen fielen auf die staubige Oberfläche und wirkten wie winzige Brenngläser. Die Einzelheiten verschwammen und waren nur noch unklar zu erkennen. »Vor vier Jahren«, stöhnte er, »sah sie noch aus wie ein Mädchen! Sie war – sie ist – ein junges Mädchen! Und jetzt sieht sie aus wie irgendeine fremde, bleiche Frau.«
»Vier Jahre«, wiederholte Toni seine Worte. »Sie ist erwachsen geworden, Julio. Deine Julietta war kein Kind mehr, sie hat sich verändert ...«
»Verändert. Allerdings!« Sclafani umklammerte den Sargdeckel. »So wächsern und eingefallen.«
»Ausgezehrt«, sagte Toni. »Die Blutarmut war wie ein Krebsgeschwür.«
»Aber ihre Lippen sind immer noch voll und rot!«
»Welche Verschwendung!« Francesco legte dem trauernden Sclafani den Arm um die Schultern. »Ich meine, all unsere Bemühungen waren umsonst. Trotzdem bleibt dir immer noch der Trost zu wissen, dass sie dir niemals Schande bereitete, nie etwas mit einem Mann hatte.«
»Das soll ein Trost sein? Das tröstet mich nicht, Francesco! Wo sind meine Enkelkinder? Wäre es denn so eine Schande gewesen? Was, heutzutage? Ihre Mutter liebte es zu lieben, selbst einen so unwürdigen Mann wie mich! Aber Julietta durfte dies nie erfahren, diese Freude war ihr verwehrt. Verschwendung, Sie haben schon recht. So schön zu sein, und doch niemals eine Chance zu haben, etwas von dieser Schönheit weiterzugeben!«
»Na, na«, machte Francesco, indem er ihn um die Schulter fasste und sich mit ihm
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